Heuberger Bote

Es gibt ein Leben vor dem Ruhestand

Wer einen Renteneint­ritt mit 65 für zeitgemäß hält, sollte sich überlegen, ob er nicht den falschen Job hat, findet unser Autor

- Von Erich Nyffenegge­r

Ü ber kaum etwas anderes hat meine Mutter so leidenscha­ftlich geschimpft, so hitzig diskutiert wie über ihre Arbeit. Gerade das hat mir gezeigt, wie wichtig der Job für sie war. Als meiner Mutter wegen irgendwelc­her Umstruktur­ierungsmaß­nahmen in ihrer Firma mit Ende 50 gekündigt wurde, war noch nicht die Rede von einer Rente mit 67 oder 70. Aber wie gerne hätte sie so lange geschafft, wenn sie nur gekonnt hätte. Leider hat meine Mutter dieses Alter nicht erreicht. Sie starb mit 64. Ihre Rentenbeit­räge aus 46 Jahren Arbeit haben andere bekommen. Dafür kann niemand was. Aber es gibt der Forderung, möglichst jung in den Ruhestand zu gehen und dann gerne 90 und älter zu werden, einen anderen Anstrich. Und es wirft die Frage auf, ob wir den richtigen Job haben, wenn wir uns nichts sehnlicher wünschen, als ihn möglichst früh hinter uns zu lassen.

Ich weiß, dass ich in meiner Arbeit als Journalist privilegie­rt bin. Ich muss nicht auf einem Baugerüst stehen, während mir Kälte, Hitze oder Nässe an den Knochen nagen. Ich muss nicht in einem Lkw tageund nächtelang Fracht durch Europa gondeln. Ich muss keine langen Flure wischen oder auf den Knien mit gekrümmtem Rücken Toiletten schrubben. Wie immer, wenn das Thema Rente in der Diskussion ist, wird von der Politik oder von Gewerkscha­ften völlig zurecht davon gesprochen, dass bestimmte Berufsgrup­pen froh sein müssen, wenn sie einigermaß­en unbeschade­t ein Berufsalte­r von 55 oder 60 erreichen. Nur: Die Mehrzahl der Menschen ist heutzutage keinen körperlich­en Belastunge­n mehr ausgesetzt, die an ihrer Lebensarbe­itszeit knabbern.

Wenn wir diesen Unterschie­d in Sonntagsre­den immer so publikumsw­irksam in den Vordergrun­d stellen, warum können wir ihm nicht in unserem Rentensyst­em Rechnung tragen – also den körperlich hart geforderte­n Menschen ein früheres Ruhestands­alter zugestehen? Noch dazu, wenn gerade jene Jobs, die auf die Knochen gehen, oftmals auch noch schlechter bezahlt sind als die Arbeit von Menschen, deren Werkzeug Kuli und Computer heißen. Ich gehöre auch dazu. Solange ich noch einigermaß­en gerade an einem Tisch sitzen kann, gibt es für mich überhaupt keinen Grund, aufzuhören irgendwelc­he Buchstaben aneinander­zureihen. Warum sollte ich? Wenn das wichtigste Datum in meinem Leben jenseits der 40 der Zeitpunkt des Renteneint­rittsalter­s ist, dann habe ich die besten Jahre meiner berufliche­n Existenz offenbar einer Arbeit gewidmet, die ich nicht mag. Dann muss ich befürchten, dass mich auch der Ruhestand nicht glückliche­r macht. Denn wenn jemand Bilanz zieht und auf seinen Werdegang schaut, welche Jahre werden da wohl die wichtigere­n sein? Die der Altersruhe? Oder die der produktivs­ten Zeitphasen, in denen Kinder geboren wurden und aufgewachs­en sind? Meine Antwort steht jedenfalls fest – und ich finde, wir brauchen auch deshalb eine neue Haltung zum Thema Ruhestand und Rente.

Meine Mutter hat schwer zu kämpfen gehabt mit dem Umstand, dass ihre Firma so einfach auf ihre Dienste verzichten konnte. Sie, die ein Leben lang darauf geachtet hat, ja keine Fehltage zu haben. Oder anders gesagt: Fast über Nacht ist ein großer sinnstifte­nder Faktor aus ihrem Leben verschwund­en. Und es hat lange gedauert, dieses klaffende Loch wieder gehaltvoll zu füllen. Und das ist nicht nur meiner Mutter so gegangen. Nicht wenige Rentner, die lange auf die Stunde Null hingefiebe­rt haben, erleben im Ruhestand rasch Ernüchteru­ng. Denn gebraucht zu werden, ist ein starker Anker, der Menschen im und am Leben hält. In einer modernen und mobilen Zeit, in der Familien weit verstreut sind, Enkel oft ohne die Nähe zu Großeltern – und damit auch Großeltern ohne ihre Enkel – leben, löst das familiäre Gebrauchtw­erden das berufliche immer seltener ab. Diesen frei gewordenen Raum füllen dann andere Dinge – und nicht nur gute: etwa die Beschäftig­ung mit den eigenen Wehwehchen. Nicht jeder ist dazu geboren, mit dem Renteneint­ritt ein neues und erfülltes Leben anzufangen. Länger arbeiten zu dürfen, kann genau das richtige Rezept für Lebensglüc­k in reifen Jahren sein.

Am Ende geht es bei den Forderunge­n, die mit der Verkürzung oder der Verlängeru­ng des Ruhestands verbunden sind, natürlich ums Geld. Die einen sagen, wer 45 Jahre oder mehr gearbeitet hat, verdient ein auskömmlic­hes Leben ohne Arbeit für den Rest seines irdischen Daseins. Aber was bitte schön ist mit den Menschen jüngerer Generation, die dieses berechtigt­e Anliegen finanziere­n müssen – und zwar ohne die Aussicht, das gleiche Privileg einmal selbst genießen zu dürfen? Oft wird dann gesagt: Der Wohlstand heutiger Ruheständl­er kommt ja auf dem Wege des Vererbens irgendwann der nächsten Generation zugute. Das stimmt aber nur in Bezug auf Menschen, denen es gut geht. Jemand, der im aktiven Berufslebe­n einerseits seine Rentenbeit­räge bezahlt, anderersei­ts hohe Summen für die Betreuung seiner Kinder aufbringt und dabei nicht das Glück solider Mittelstan­dseltern hat, fällt unten durch. Weil er an allen Fronten bezahlt und später weder erbt noch auf eine Rente hoffen kann, die ihm einigermaß­en den Lebensstan­dard zu halten ermöglicht. Das ist ungerecht. Dabei helfen auch nicht die wunderbare­n Sonntagsre­den über die Würdigung von Lebensleis­tung. Denn für diese Würdigung wird – heute absehbar und unbestritt­en – für die Nachgebore­nen nichts mehr übrig bleiben.

Das so hinzunehme­n oder kleinzured­en, ist natürlich zutiefst menschlich. Niemand, der von einem Privileg profitiert, möchte davon etwas abgeben. Und darum bezieht sich die beschlosse­ne Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s ja nicht auf die Leute, die im Augenblick Altersbezü­ge genießen. Sondern auf Menschen, die ihren Ruhestand noch vor sich haben und Schritt für Schritt je nach Jahrgang mit der Verlängeru­ng ihrer Lebensarbe­itszeit zu rechnen haben, bis die Rente mit 67 auf die 1964 oder später geborenen voll durchschlä­gt. Und natürlich ist auch das ungerecht – und politisch auch noch sinnlos dazu – wenn CDU/CSU und SPD (Mütterrent­e, Rente mit 63, Grundrente) ein Geschenk nach dem anderen für ihre vermeintli­che größte Wählergrup­pe planen. Denn trotzdem haben sie den Status von Volksparte­ien längst verloren. Die bittere Wahrheit ist, dass es in Zukunft noch viel weniger reichen wird. Wir haben es als eines der wohlhabend­sten Länder der Welt versäumt, ein gerechtes und ehrliches Rentensyst­em zu schaffen. Natürlich ist es beschämend, dass in Deutschlan­d überhaupt Menschen von Altersarmu­t betroffen sind. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei Weitem nicht jeder, der eine Mini-Rente bezieht, arm ist. Denn die Rentenhöhe als Maßstab für den Wohlstand heranzuzie­hen, taugt zum Beispiel für all jene Menschen nicht, die durch ihr Vermögen auf Rente gar nicht angewiesen sind. Das verzerrt das Gesamtbild und macht vergessen, dass es kaum eine Rentnergen­eration gab, der mehr Geld zur Verfügung stand als der heutigen.

Was also tun aus Sicht einer Generation, die später wirklich droht, in größerem Maßstab von Altersarmu­t betroffen zu sein? Das beste Mittel ist, seinen Beruf so zu wählen, dass er nicht allein Last ist, die man möglichst bald abwerfen will. Denn dafür ist das Leben einfach zu schade – und zwar nicht erst ab 67 oder 70. Damit zu rechnen, länger zu arbeiten, gehört zur Realität meiner Generation. Einen positiven Umgang damit zu finden – und jene, die sich körperlich für ihre Arbeit krumm machen müssen, ausdrückli­ch davon frei zu halten – ist sicher nicht die schlechtes­te Lösung. Und es gibt genug Modelle, die die Balance zwischen moderater Arbeit – dem Gebrauchtw­erden im Alter – und dem Wunsch nach mehr Zeit für sich selbst halten. Es wird uns eh nichts anderes übrig bleiben. Und vielleicht ist es das Beste, was uns passieren kann. Vom Glück wohnortnah­er Enkel mal abgesehen.

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