„Ein Denkzettel ist die Wahlbeteiligung schon“
Wahlforscher Hans-Georg Wehling vermutet, dass die Gemeinderäte nun frecher werden
(seb) - Bei der Wiederwahl von Oberbürgermeister Michael Beck haben sich nur knapp 18 Prozent der Wahlbeteiligten aufraffen können, um zur Wahl zu gehen. Im Gespräch mit unserem Redakteur Sebastian Heilemann erklärt der Politikwissenschaftler und Wahlforscher Hans-Georg Wehling unter anderem, warum die EU-Wähler nicht gerade motiviert sind, wählen zu gehen und was die Kirche mit der Wahlbeteiligung zu tun hat. Und er ist sich sicher: „Jetzt kommt Leben in die Bude.“
Herr Wehling, am 3. November haben die Tuttlinger ihren Oberbürgermeister im Amt bestätigt. Die Wahlbeteiligung befand sich auf einem Rekordtief. Woran kann das liegen?
Die Wahlbeteiligung mit 18 Prozent ist beschämend gering. Das ist ein sehr schlechtes Wahlergebnis. Wenn Sie das aber mal vergleichen, zum Beispiel mit dem Nachbarland Schweiz, dann haben Direktwahlen und Volksabstimmungen dort fast immer eine geringere Beteiligung als in Deutschland. Da ist die Beteiligung bei uns bei Kommunalwahlen sogar eher als hoch anzusehen.
Beeinflussen kann die Wahlbeteiligung zum Beispiel die Zahl der bei Kommunalwahlen ja wahlberechtigten EU-Ausländer in einer Kommune und die Jungwähler zwischen 16 und 18 Jahren. Beide Gruppen haben bei Bundes- und Landtagswahlen kein Wahlrecht. Wir wissen aus Vergleichen, dass die EU-Wähler nicht gerade motiviert sind, wählen zu gehen. Sie sind noch nicht so richtig zuhause in der politischen Landschaft. Die Jugendlichen unter 18 Jahren gehen auch eher nicht zur Wahl. Das Wahlrecht ist ein Angebot. Es gibt keine Wahlpflicht.
Woher kommt dieses Desinteresse?
Die Wahlbeteiligung ist also immer auch ein Ausweis von Integration. Wenn man sich in der Gemeinde zu Hause fühlt, ist man eher geneigt auch zur Wahl zu gehen. Weil man sagt: Ich kenne ja die Kandidaten und das Umfeld. Es ist mir wichtig, was im Ort geschieht. Heute haben viele Einwohner einer Gemeinde ihren Lebensmittelpunkt aber ganz woanders, sie schlafen nur in der Stadt.
Und sie haben dann auch Probleme, sich auszukennen. Auch Anderes wirkt sich auf das Wahlverhalten aus. Zum Beispiel die Konfessionszugehörigkeit. Das war ja früher ein typisches Muster. Man geht erst zur Kirche und nach der Kirche zur Wahl. Das hat für eine hohe Wahlbeteiligung gesorgt. Das ist heute kein Muster mehr.
Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen ist meist höher als bei kommunalen Wahlen. Doch die Entscheidungen, die vor Ort getroffen werden, sind eigentlich viel näher an den Menschen dran, als die, die im Bundestag getroffen werden.
Da würde ich Ihnen gar nicht widersprechen. Aber die stärkere Beteiligung haben wir immer bei Bundestagswahlen. Da ist auch in der Regel jeder integriert. Etwas geringer ist das im Falle von Landtagswahlen. Und erst recht niedrig ist die Beteiligung bei Kommunalwahlen. Diese Hierarchie gibt es. Das ist halt so. Da kann man dagegen antreten, alles Mögliche bieten im Wahlkampf, sowohl bei der Bürgermeisterwahl als auch bei der Kommunalwahl, meist ohne Erfolg.
Wenn die Gemeinde gut verwaltet ist, ist die Motivation zur Wahl zu gehen, relativ gering. Wenn sie am Wahlsonntag noch schönes Wetter haben, ist es schon passiert. Natürlich kann das bei Bürgermeisterwahlen anders aussehen, wenn es in der Kommune schlecht läuft. Dann fühlt man sich eher motiviert zu wählen.
Welche Rolle spielt denn die Anzahl der Kandidaten bei der Wahl? In Tuttlingen gab es nur einen.
Das ist gar nicht so selten. Der Bürgermeister kann sich das verdient haben, damit, dass er seine Amtszeit besonders gut gemacht hat.
Aber wie ist es denn aus Sicht des Wählers? Kann da vielleicht auch das Gefühl entstehen, dass man eben gar keine Wahl hat, wenn es nur einen Kandidaten gibt?
Das wirkt sich nicht gerade positiv auf die Wahlbeteiligung aus. Dann sagt man sich, was soll das Ganze? Ich habe ja eh keine Wahl. Das Gefühl kann entstehen und dann ist das oft auch gekoppelt mit dem Selbstbewusstsein des Bürgermeisters, der dann sagt, sie lieben mich doch alle, sie kennen mich und die wissen auch , was ich hier leiste. Gebt mir einfach eure Stimme. Diese Selbsteinschätzung ist aber für den Amtsinhaber brandgefährlich.
Was heißt es denn für die Legitimation, wenn ein Oberbürgermeister mit nur 18 Prozent Wahlbeteiligung gewählt ist?
Zunächst mal müssen wir davon ausgehen, dass der Amtsinhaber wiedergewählt worden ist und zu Recht Oberbürgermeister seiner Stadt ist. Aber der Oberbürgermeister wird es schon etwas schwerer haben. Die Leute nehmen das Ergebnis ja auch wahr, wenn er so wenig Stimmen erhalten hat. Ein Bürgermeister muss sich dann sagen: Ich muss mich anders präsentieren. Ich muss mich um bestimmte Dinge kümmern, die ich bisher vernachlässigt habe. Ein Denkzettel ist die Wahlbeteiligung schon. Die Gemeinderäte werden aus seiner Sicht frecher werden. Die lassen ihm nicht alles durchgehen.
„Die lassen ihm nicht alles durchgehen“, prognostiziert Wahlforscher Hans-Georg Wehling zum künftigen Verhalten der Tuttlinger Gemeinderäte.
In Tuttlingen hatte sich der Gemeinderat vor der Wahl hinter Beck gestellt.
Das ist vorbei. Jetzt kommt Leben in die Bude.