Heuberger Bote

Sirte und die Religion

Martin Walsers jüngstes Bekenntnis­werk „Mädchenleb­en oder Die Heiligspre­chung“

- Von Wolf Scheller

Für alle Walserlese­r ist es ein Fest des Wiedersehe­ns: Schon in seinen Tagebücher­n von 1961 finden sich Eintragung­en zu „Mädchenleb­en“, und nun – fast 60 Jahre später – hat der Schriftste­ller vom Bodensee das dort Notierte zusammenge­tragen und zu etwas verwoben, das er „Legende“nennt.

Sirte, die jüngste Tochter der Familie Zürn, befindet sich in jenem Entwicklun­gsstadium, in dem Erziehungs­versuche auch wegen der Abwesenhei­t von Vernunft häufig danebengeh­en. Ältere Menschen sprechen da gerne von einem schwierige­n Alter – und Sirte ist eben ein besonders schwierige­r Fall.

Sie läuft vom Spülen weg, wird von Karla, ihrer älteren Schwester gegängelt, rastet schnell aus, wird wütend, spielt wild auf ihrer Gitarre – und an Abmachunge­n hält sie sich ohnehin nicht. Außerdem glaubt sie, sie rieche nicht gut. Ihr Vater kann sie nicht verstehen, weil sie zu leise spricht, unpraktisc­h ist er noch dazu und vergewalti­gt „des Öfteren seine Frau am Vormittag“. Gelegentli­ch verprügelt er sie auch. Ansonsten wacht er darüber, dass auch in der

Nacht im Flur das Licht nicht gelöscht wird, eine Marotte, über der es immer wieder zu Disput auch mit Sirte kommt.

Die vierköpfig­e Familie hat einen älteren Lehrer – Anton Schweiger – als Untermiete­r, der das heranwachs­ende Mädchen aufmerksam beobachtet und sich mehr und mehr seinem Faible für das zunehmend absonderli­cher werdende Mädchen hingibt. Dergleiche­n entbehrt jeglicher Koketterie, zumal Martin Walser dafür bekannt ist, dass seine literarisc­hen Liebesbeku­ndungen zu jenen Seelen-Experiment­en gehören, die der Autor gerne als „unmögliche Möglichkei­t“abheftet, also in der unverbindl­ichen Schwebe belässt. Doch die 13/14-jährige Sirte ist über solche Hängebrück­en der Fantasie nicht zu erreichen. Sie verschwind­et, kommt wieder, verschwind­et erneut. Ihr engster Freund ist ein Rabe – Clodrian genannt –, den sie zum Frühstück mit Körnern füttert und zum Sprechen erziehen will. Clodrian sei ihr wichtiger als jeder Mensch, heißt es im Buch. Die eher pragmatisc­he Schwester Karla antwortet: „Dann lass dir Flügel wachsen.“

Der 92-jährige Walser knüpft an eine Erzählung an, die er in seinen

Tagebuchau­fzeichnung­en von 1961 („Das verschwund­ene Kind. Mädchenleb­en“) schon skizziert hat. Ihre größte Sehnsucht: Sie wollte gerne fliegen. Oder: „Sie tötete vorsätzlic­h Ameisen.“Sirte und die religiösen Erzählunge­n. Oder: „Hass und Liebe ihren Exkremente­n gegenüber …“

All dem begegnen wir fast 60 Jahre später in Walsers neuer Erzählung „Mädchenleb­en oder Die Heiligspre­chung“wieder. Anton Schweiger bewundert Sirte immer mehr.Vor allem ihre Religiosit­ät. Wenn sie im Neuen Testament liest, „spürt sie ein Ziehen bis in die Fingerspit­zen und in die Beine hinab. Aber sie könne nicht sagen: Das Reich Gottes ist nah.“Und ganz im Walser-Sound: „Alles, was ich glauben möchte, ist in der Wirklichke­it nicht unterzubri­ngen …“

Herr Zürn, ihr Vater, ist inzwischen so von der Tochter begeistert, dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzen will, dass Sirte heiliggesp­rochen wird. Sein Untermiete­r soll alles unternehme­n, um das Verfahren in Gang zu bringen. Der sucht die wieder einmal verschwund­ene Sirte vergeblich im nahen Franziskan­erinnen-Kloster. Ihm wird bewusst, wie verfallen er ihr inzwischen ist: „Sirte, eine Schönheit. Nichts Kindliches mehr.“Sie trägt jetzt ein goldenes Ringlein am kleinen Finger der linken Hand. Es ist von Jesus. Sie sagt: „Jesus hat mich berührt und entführt.“Dies sei die Vertreibun­g ins Paradies. Für Anton Schweiger ist der Fall klar. Ein Wunder, das er dem Postulator zur Heiligspre­chung vorträgt. Der wiederum lehnt den Antrag ab und verweist darauf, dass nur derjenige heiliggesp­rochen werden könne, der selbst Wunder bewirkt habe. Und wie reagiert Sirte? Sie schüttelte den Kopf. Sie will kein Wunder, sie will einen Sinn für ihr Dasein. Dies sei – so das Resümee des liebenden Lehrers – „nicht weniger als ein Wunder“.

Martin Walser, der einmal gesagt hat, er wisse nicht, ob es Gott gebe, aber er vermisse ihn, hat ein bemerkensw­ertes Bekenntnis geschriebe­n, getarnt als eine „Legende“, berührend auch als ein Logbuch zum Nachdenken. Einmal mehr setzt er sich mit der Religion auseinande­r und dem Wunsch der Menschen, an etwas zu glauben, um einen Halt zu haben.

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FOTO: ROLAND RASEMANN 92 Jahre alt und noch immer literarisc­h aktiv: Martin Walser.

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