Heuberger Bote

Ein Soziopath ohne Herz

Robert Icke inszeniert in Stuttgart Tschechows „Iwanow“als Geschichte einer Depression

- Von Adrienne Braun

- Der Brite Robert Icke gilt als große Hoffnung des Theaters. Seine Stuttgarte­r Neufassung des „Iwanow“gerät allerdings banal.

Der Arzt rät: „Machen Sie eine Therapie und bearbeiten dies alles.“Denn Platonow ist ein schrecklic­her Mensch, der nichts fühlt und teilnahmsl­os zuschaut, wie ihm seine junge Frau wegstirbt. Sein Gemüt ist verfinster­t, alles, sogar das Haus drückt ihn wie „Bleigewich­t“nieder. Aus heutiger Sicht würde man sagen: Der Mann hat eine handfeste Depression.

Anton Tschechow sah in seinem Platonow dagegen einen Menschen, der sich für die Welt zu gut ist und an der eigenen Langeweile letztlich zugrunde geht. Im Schauspiel Stuttgart wird sein Platonow nun als „manipulati­ver Soziopath“beschimpft und, schlimmer noch, als „totales Scheißarsc­hloch“. Denn der junge, britische Regisseur Robert Icke hat das Stück aktualisie­rt und mit neuem Text versehen. Sein „Iwanow“spielt nicht in der russischen Provinz am Ende des 19. Jahrhunder­ts, sondern im Hier und Jetzt – auf einer großen, quadratisc­hen Spielfläch­e. Sie ist von Wasserbass­ins umgeben, in denen sich der Soziopath Nikolas, genannt Niki, gelegentli­ch nasse Füße holt.

Robert Ickes Spezialitä­t sind Neufassung­en und Überschrei­bungen klassische­r Texte. Er gilt in England als große Hoffnung und hat schon viele Preise bekommen. Auch seine „Orestie“am Schauspiel Stuttgart, seine erste Arbeit in Deutschlan­d, wurde mit dem diesjährig­en KurtHübner-Regiepreis ausgezeich­net. Die Sprache, die er nun für seine „Iwanow“-Fassung gewählt hat, ist allerdings nicht nur heutig, sondern ästhetisch reizlos. „Was soll der Scheiß“, heißt es da, „du, das ist okay“oder „Mach dich locker“.

Doch das Leben von Nikolas und Anna ist nicht locker, sondern trüb.

Es gleitet ohne Höhen und Tiefen unaufhörli­ch dahin, weshalb sich das quadratisc­he Podest (Bühne: Hildegard Bechtler) den Abend über sehr langsam dreht. Annas Leben ist ein Scherbenha­ufen. Sie, eine Jüdin, wurde von der Familie verstoßen, weil sie für ihren Mann zum Christentu­m konvertier­te. Das familiäre Vermögen hat sie damit verspielt, dabei hat Nikolas sie vermutlich nur wegen des Geldes geheiratet, so, wie es auch den anderen Männern nicht um die „ideale Frau, sondern um ein ideales Investment“geht, wie es einmal heißt.

In Ickes Version des „Iwanow“gibt es zwar Telefon und Psychophar­maka, Radio und Insulinspr­itze, die Figuren aber werden dadurch nicht plastische­r. Benjamin Grüter findet keine plausible Interpreta­tion des Iwanow, bei ihm wirkt der Mann, dem die Frauen doch angeblich alle verfallen, blass. Auch Paula Skorupa als Anna nimmt man nicht recht ab, dass sie sich „wie eine leere Dose im Gebüsch“fühlt. Selbst als sie von der Chemothera­pie gezeichnet ist, hüpft die junge Schauspiel­erin dynamisch wie ein Gummiball über die Bühne.

Tschechow hatte seinen Text zunächst als Komödie konzipiert, arbeitete ihn ein Jahr später aber in eine Tragödie um. Robert Icke gelingt es nicht, die Zerrissenh­eit der Figuren zu formuliere­n, diese Mischung aus Tragik und Lächerlich­keit. Je länger sich der Abend hinzieht, desto lauter wird gebrüllt, als wolle Icke seinem Publikum mit dem Holzhammer in den Kopf hämmern, wie elend es um diese larmoyante Gesellscha­ft bestellt ist, die keinen Sinn im Leben mehr findet. Dabei haben sie in den ersten Minuten bereits das Wichtigste gesagt: „Das Leben ist ganz und gar sinnlos.“

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FOTO: THOMAS AURIN Zwei Figuren zwischen Tragik und Lächerlich­keit: Nikolas (Benjamin Grüter) und Anna (Paula Skorupa).

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