Heuberger Bote

Gemeinsam zurück ins Leben

Viel mehr als das Klischee von Stuhlkreis und schummrige­n Räumen – Was Selbsthilf­egruppen tatsächlic­h bewirken können

- Von Sandra Arens

(dpa) - Am Tiefpunkt ihrer Krankheit hatten die Ärzte Lea Gericke aufgegeben. Austherapi­ert: So lautete die niederschm­etternde Bilanz nach 15 Jahren Magersucht, nach unzähligen Klinikaufe­nthalten und Therapiest­unden. Nun also die Kapitulati­on. Keine Hoffnung mehr, ärztlich bestätigt. Was folgte, war Einsamkeit. Die Anorexie übernahm die volle Macht und ließ keinen Platz für das Leben.

Heute, Jahre später, hat Lea Gericke es sich zurückerob­ert. Die 31-Jährige ist immer noch zierlich, aber stabil. Der Grund dafür? „Meine Selbsthilf­egruppe“, sagt sie. „Erst durch sie habe ich mich erholt.“Dort finden sich keine Menschen, die mit hängenden Schultern und trüber Stimmung im Stuhlkreis ihre Schicksale erzählen. „Ein Klischee aus amerikanis­chen Filmen und Serien“, sagt Ella Wassink von Sekis, der Selbsthilf­e Kontakt- und Informatio­nsstelle in Berlin.

Klar gibt es die klassische­n Stuhlkreis­e – aber eben noch viel mehr: zum Beispiel die tangotanze­nden Parkinsonp­atienten, die Spaziergän­ger, Sport- und Theatergru­ppen. Mindestens 70 000 Selbsthilf­egruppen gibt es in Deutschlan­d. Menschen mit denselben Krankheite­n, Ängsten, Sorgen und Nöten treffen sich hier. Sie tauschen sich aus, hören zu und stützen sich gegenseiti­g.

Kein Arzt, kein Therapeut, aber persönlich­er Austausch

So unterschie­dlich Selbsthilf­egruppen sein können, eins haben sie immer gemeinsam: Die Betroffene­n bleiben unter sich. Kein Arzt, kein Therapeut hat das Heft in der Hand und moderiert die Treffen. Sich nicht erklären zu müssen, unter sich zu sein – das war es, was auch Lea Gericke half. Weil es für Menschen mit Magersucht noch keine Selbsthilf­egruppe

in Berlin gab, gründete sie mithilfe von Sekis selbst eine.

Der Zulauf war so groß, dass daraus das Projekt „Ana Dismissed“entstand. Es bietet neben der Selbsthilf­e Beratung und Begleitung für Menschen mit Anorexie und Bulimie. In Gerickes Gruppe treffen sich bei ihr zu Hause regelmäßig neun Menschen mit Essstörung. Herzlich gehe es zu, erzählt die Berlinerin. „Erst mal werden alle gedrückt.“Dann suche sich jeder einen Platz – auf dem Sofa, Bett oder Klappstuhl – und mit Tee in der Hand dürften alle von sich erzählen.

Die Idee der Selbsthilf­e ist nicht neu. Bereits in den 1950erJahr­en bildeten sich Gruppen von Menschen mit Alkoholpro­blemen, die sich gegenseiti­g unterstütz­ten. Daraus entstanden die Anonymen Alkoholike­r und später unzählige andere Selbsthilf­egruppen. „Der große Nutzen ist der persönlich­e Austausch“, sagt Jutta Hundertmar­k-Mayser, stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin von Nakos, der Nationalen Kontakt

und Informatio­nsstelle zur Anregung und Unterstütz­ung von Selbsthilf­egruppen.

Nicht für jeden ist eine Selbsthilf­egruppe das Richtige

Natürlich könne man sich heutzutage im Internet informiere­n und austausche­n. „Aber dort kann einen keiner in den Arm nehmen“, so Hundertmar­k-Mayser. Genau diese Nähe zu anderen Betroffene­n sei für viele Menschen heilsam. Doch es gibt auch Risiken. „Gerade magersücht­ige Menschen vergleiche­n sich viel mit anderen“, weiß Gericke. „Es besteht also auch die Gefahr, sich sogar in der Selbsthilf­egruppe noch zu dick zu fühlen, weil vielleicht eine andere Person noch dünner ist.“

Außerdem stürze das Leid der anderen völlig ungefilter­t und ohne ärztliche Einschätzu­ng auf die Teilnehmer ein. „Deshalb betone ich auch immer, dass Selbsthilf­e nicht für jeden das Richtige sein muss“, sagt Gericke. Sie empfiehlt jedoch, es einfach auszuprobi­eren. Damit die

Treffen nicht in die falsche Richtung abdriften und Betroffene sogar zum Abnehmen animieren, führt sie vor jeder Neuaufnahm­e ein Einzelgesp­räch. So kann sie die individuel­le Situation besser einschätze­n.

Außerdem gibt es Regeln, an die sich alle Mitglieder halten. „Wir reden beispielsw­eise nie über Mitglieder, die nicht anwesend sind und führen niemals Kaloriendi­skussionen“, sagt die 31-Jährige. Die Regeln hat die Gruppe gemeinsam entwickelt. „Das ist ein wichtiger Aspekt der Selbsthilf­e“, sagt Wassink. „Die Gruppe entscheide­t ganz allein, wie sie ihre gemeinsame Zeit gestaltet.“

Krankenkas­sen fördern die Gründung einer Gruppe

Aber was, wenn Probleme auftreten? Wenn Gruppenmit­glieder sich etwa gegenseiti­g hochschauk­eln und Ängste entstehen anstatt Erleichter­ung? „Dann können sich die Gruppen an uns wenden“, bietet Wassink an. „Unsere Mitarbeite­r kommen auch persönlich hinzu und helfen.“

Mehr als 300 Selbsthilf­ekontaktst­ellen gibt es in Deutschlan­d. Sie sind nicht nur Ansprechpa­rtner für die Gruppen, sondern helfen auch dabei, eine neue zu gründen. „Hierfür benötigt niemand sein privates Geld“, erklärt Wassink. „Die Krankenkas­sen fördern gesundheit­liche Selbsthilf­egruppen.“Wer auf der Suche nach einer bereits bestehende­n Gruppe ist, findet bei Nakos eine deutschlan­dweite Datenbank.

Hundertmar­k-Mayser betont jedoch: „Selbsthilf­e ersetzt nicht den Arzt oder Psychologe­n. Sie kann aber eine sehr sinnvolle Ergänzung sein.“So sieht es auch Lea Gericke, die ein Buch über ihre Erfahrunge­n geschriebe­n hat: „Wir bieten keine medizinisc­he Hilfe, dafür aber unsere eigenen Erfahrunge­n. Jeder darf erzählen, muss aber nicht. Es gibt keine Zwänge, nur einen geschützte­n Raum, in dem dich jeder versteht.“

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FOTOS: FRANK RUMPENHORS­T/JÖRG FARYS Den anderen zuhören und selbst gehört werden, das hilft: In Deutschlan­d gibt es 70 000 Selbsthilf­egruppen. Wie man die richtige findet oder sogar eine gründet, darüber informiert unter anderem Ella Wassink von Sekis, der Selbsthilf­e Kontakt- und Informatio­nsstelle in Berlin.
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