Der Südwesten hat ein Impfproblem
Bei keiner der wichtigsten Infektionskrankheiten reicht die Impfquote aus, um die Schwächsten zu schützen
(lsw) - Tausende Kinder in Baden-Württemberg haben nach Berechnungen der Krankenkasse Barmer keinen Impfschutz, etliche sind nicht gegen Windpocken geschützt und fast jedes siebte Kind könnte an Röteln und Mumps erkranken. Das ergibt sich aus am Montag in Stuttgart vorgelegten Zahlen des Arzneimittelreports der Krankenkasse. Bei Jungen und Mädchen im einschulungsfähigen Alter sei bei keiner der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten eine Impfquote von 90 Prozent erreicht worden. Für eine Schutzwirkung in der Gesellschaft seien aber Immunisierungsraten von mindestens 95 Prozent nötig. Die repräsentativen Daten der Barmer-Versicherten wurden für den Report auf die Bundesbevölkerung hochgerechnet.
Impfquote:
Laut Arzneimittelreport waren 3,8 Prozent der versicherten Zweijährigen, 3,4 Prozent der Vier- und 2,5 Prozent der Sechsjährigen in Baden-Württemberg im Jahr 2017 überhaupt nicht geimpft worden. „Das wären mehr als 9000 Kinder ohne jeglichen Impfschutz“, kritisierte Barmer-Landesgeschäftsführer Winfried Plötze. „Baden-Württemberg ist ein Land mit unterdurchschnittlicher Impfakzeptanz.“
Krankheiten:
Eine Windpockenimpfung hatten vor zwei Jahren laut Report nur 73,4 Prozent der Sechsjährigen.
Lediglich 86,2 Prozent der Kinder derselben Altersgruppe waren gegen Röteln und Mumps geimpft. Auch der Schutz gegen krebserregende humane Papillomviren (HPV) ist laut Report lückenhaft. Und die Zweifachimpfung gegen Masern hatten nur 86,4 Prozent der Jungen und Mädchen im einschulungsfähigen Alter. Zudem war mehr als jedes fünfte Kleinkind, das 2015 geboren wurde und bei der Barmer versichert ist, in den ersten beiden Lebensjahren nicht oder nur unvollständig gegen Masern geimpft. Masern sind hoch ansteckend und können in seltenen Fällen auch tödlich verlaufen. Insgesamt waren sechsjährige Kinder im Südwesten laut Barmer bei keiner der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten ausreichend mit einer Quote von 95 Prozent geimpft. Der Impfschutz aber sei notwendig, um auch diejenigen vor einer Infektion zu schützen, die sich nicht impfen lassen können, erklärte Karlin Stark, die Leiterin des Landesgesundheitsamtes im Regierungspräsidium Stuttgart. Dazu gehörten Schwangere und Babys.
Impfskeptiker:
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht Impfgegner auf Rang sieben der größten Gefahren für die Weltgesundheit. Eine größere Gruppe stellen die sogenannten Impfskeptiker dar, die Impfungen nicht prinzipiell ablehnen. Sie haben spezielle Auffassungen zum Impfzeitpunkt, zur Impfstrategie, zur Wirksamkeit und Sicherheit sowie zu den Nebenwirkungen. Wie viele Impfgegner oder Impfskeptiker es in Baden-Württemberg gibt, ist unklar.
Risiko Vergesslichkeit:
Nicht die Impfkritiker sind das Risiko, sagen,
Plötze und Stark. Häufiger würden die jeweiligen Krankheiten und die möglichen Folgen unterschätzt. Jeder Dritte vergesse zum Beispiel seinen Impfstatus.
Was getan werden kann:
Laut Techniker Krankenkasse (TK) müssen vor allem teilweise geimpfte Kinder in den Blick genommen werden. „Wir gehen davon aus, dass deren Eltern grundsätzlich eine hohe Impfbereitschaft haben, die Impfungen aber aus anderen Gründen nicht haben vornehmen lassen“, sagte Andreas Vogt, Leiter der TK-Landesvertretung Baden-Württemberg. Als Gründe nannte die TK Zeitmangel, Ungewissheit, Vergesslichkeit oder zu wenig Aufklärung. Um die Impfbereitschaft zu erhöhen, sollten Ärzte laut Report stärker auf die Bedeutung des Schutzes aufmerksam machen. Die Krankenkasse schlägt zudem einen Zeitkorridor vor, innerhalb dessen geimpft werden soll. Kassen sollten Versicherte zudem aktiv an die nächste Masernimpfung erinnern, forderte TK-Chef Vogt. Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) schlägt neben dem Impf-Erinnerungssystem durch Arzt oder Krankenkasse vor, dass jeder Arzt alle Impfungen durchführen können sollte. „So könnte der Kinderarzt auch die begleitenden Eltern impfen oder die Frauenärztin die bei Jugendlichen fehlende Masernimpfung nachholen“, sagte Lucha.