Eine Entschlackungskur für den Bundestag
Das Parlament ist zuletzt auf Rekordgröße angewachsen – Durch eine Idee vom Bodensee soll es wieder schrumpfen
- Zu teuer, zu ineffizient, zu groß: Der Bundestag platzt aus allen Nähten. Er ist eigentlich ausgelegt auf 598 Parlamentarier – doch nach der Bundestagswahl 2017 zogen 709 Abgeordnete ein. Experten befürchten, dass es nach der kommenden Wahl über 800 sein könnten. Dabei ist schon jetzt nur der chinesische Volkskongress als nationales Parlament weltweit größer. Eine Idee vom Bodensee soll den Bundestag entschlacken – nach baden-württembergischen Vorbild.
Verantwortlich für das Anwachsen ist ein Wahlsystem, das den Parteien durch Überhang- und Ausgleichsmandate mehr Sitze beschert als vorgesehen. Weil sie in einigen Bundesländern bei den vergangenen Wahlen durch gewonnene Direktmandate mehr Sitze geholt hatten, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zugestanden hätte, ist das Parlament immer weiter gewachsen. Denn seit 2013 müssen diese Überhangmandate für die anderen Parteien ausgeglichen werden. Die Hälfte der Sitze im Bundestag wird durch Direktmandate verteilt.
An Reformvorschlägen mangelt es nicht. Einer der prominentesten Fürsprecher ist Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Auf seine Idee, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 270 und damit auch die der Direktmandate zu reduzieren, konnte sich eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe nicht einigen.
FDP, Grüne und Linke haben einen neuen Anlauf gestartet. Ihr Gesetzesvorschlag sieht vor, die Zahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 250 zu reduzieren. Die Zahl der regulären Sitze im Bundestag soll jedoch von 598 auf 630 erhöht werden. Aber: Die Große Koalition hat bereits dagegen gestimmt.
Dabei sei eine Entschlackung des Bundestags dringend nötig, um das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit der Politik zurückzugewinnen, sagt Politologe Joachim Behnke von der Friedrichshafener Zeppelin Universität. „Diese Reformunfähigkeit schürt Vorurteile gegenüber der Politik und treibt die Menschen so zu den Rechtspopulisten“, warnt der Professor vom Bodensee.
Eine Reform sei nicht nur des Vertrauens wegen notwendig. Durch das Mehrheitswahlrecht könnten Wahlkreise mit weniger als einem Drittel der Stimmen gewonnen werden. „Da kann man nicht mehr von Repräsentanten der Wahlkreise sprechen“, so Behnke. Die ehemals großen Volksparteien CDU/CSU und SPD verlieren an Stimmen, kleinere Parteien gewinnen hinzu. „Das ist die tödlichste Kombination für die Entstehung von Überhangmandaten überhaupt“, erklärt der Politikwissenschaftler.
Behnke schlägt daher vor: Die Parteien bestimmen pro Wahlkreis zwei Kandidaten – im Idealfall eine Frau und einen Mann. Die Wähler haben nur noch eine Stimme. Mit einem Kreuz wählen sie einen der beiden Kandidaten – wie schon bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Daher nennt Behnke sein Modell „BaWü-Plus“. Denn im Südwesten bestimmt man den Direktkandidaten und die prozentuale Verteilung der Sitze im Landtag mit nur einer Stimme. „Dabei erhalten soviele Wahlkreiskandidaten entsprechend den Ergebnissen in ihrem Wahlkreis ihre Sitze, bis die Anzahl der Mandate derjenigen entspricht, die einer Partei aufgrund ihres Anteils an den Stimmen zustehen würden. Hätte sie zum Beispiel aufgrund ihres Stimmergebnisses einen Anspruch auf 20 Mandate, dann bekommen die 20 Kandidaten mit den höchsten Stimmanteilen in ihren Wahlkreisen diese 20 Mandate“, erklärt Behnke. Dieses System könnte zudem noch mit einer von der Partei erstellten Liste ergänzt werden, um den wichtigen Funktionsträgern den Einzug ins Parlament zu erleichtern.
Behnke zufolge hat das zwei Vorteile. Zum einen hätten die Menschen in den Wahlkreisen mehr Einfluss auf die Auswahl der Abgeordneten. Zum anderen könnte die Zusammensetzung des Bundestags zwischen Frauen und Männern so ausgewogener werden. „Durch Zwei-Personen-Wahlkreise könnte man das klassische Argument unterlaufen, man hätte ja gerne Frauen nominiert, bei nur einem Sitz sei es aber nun mal zufällig der Mann geworden“, sagt Behnke. Die Landtagswahl in Thüringen habe gezeigt, dass das bisherige Wahlrecht eine paritätische Besetzung schwierig mache, wenn eine Partei vor allem Direktmandate gewinne und in diesen Wahlkreisen Männer dominiert hätten. „Die Liste der CDU in Thüringen war zwar reißverschlussmäßig mit Frauen und Männern besetzt. Von den 21 Sitzen, die alle über Direktmandate vergeben wurden, waren aber nur zwei Frauen dabei.
Dadurch ist der Frauenanteil radikal geschrumpft“, erzählt Joachim Behnke.
Axel Müller, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Weingarten, hält es für „vollkommen ausgeschlossen“, dass ein solcher „Vorschlag, der nicht weniger als eine radikale Neuordnung und Neugestaltung unseres Wahlrechts darstellen würde, im Deutschen Bundestag eine Mehrheit erhält“. Müller hält das Modell Behnkes eher für einen politikwissenschaftlichen Forschungsbeitrag und weniger für einen realistischen Umsetzungsvorschlag.
Stefan Ruppert, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, befürchtet durch das Modell die Entstehung „verwaister Wahlkreise“: „Ganze Gebiete wären nicht repräsentiert. Hinzu kommt, dass dort, wo besonders für ein Mandat gekämpft wurde, dieses nicht belohnt wird, weil entweder ein Kandidat wenige Stimmen mehr erhält oder aber ein Direktmandat in einem anderen Wahlkreis prozentual mehr Stimmen erhalten hat“, sagt Ruppert. Das könne zu Frustration bei Wählern und Kandidaten führen, „da die Wahlen des eigenen Wahlkreises immer auch in Abhängigkeit von den Ergebnissen anderer Wahlkreise stehen“. Daher sei wichtig, dass bei einer Reform das Verhältniswahlrecht gewahrt bleibe.
Auch Behnke räumt ein, dass seine Idee auf Bundesebene schwer vermittelbar ist. Generell glaubt er nicht, dass eine große Reformbereitschaft da ist. „Wer den Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche fragen.“Vom jetzigen System hätten im Prinzip alle Parteien einen Vorteil. „Sollte der Bundestag durch ein neues Gesetz auf 598 Sitze verkleinert werden, würde ein Siebtel der Abgeordneten über ihre eigene Abschaffung abstimmen.“