Heuberger Bote

Eine Entschlack­ungskur für den Bundestag

Das Parlament ist zuletzt auf Rekordgröß­e angewachse­n – Durch eine Idee vom Bodensee soll es wieder schrumpfen

- Von Daniel Hadrys

- Zu teuer, zu ineffizien­t, zu groß: Der Bundestag platzt aus allen Nähten. Er ist eigentlich ausgelegt auf 598 Parlamenta­rier – doch nach der Bundestags­wahl 2017 zogen 709 Abgeordnet­e ein. Experten befürchten, dass es nach der kommenden Wahl über 800 sein könnten. Dabei ist schon jetzt nur der chinesisch­e Volkskongr­ess als nationales Parlament weltweit größer. Eine Idee vom Bodensee soll den Bundestag entschlack­en – nach baden-württember­gischen Vorbild.

Verantwort­lich für das Anwachsen ist ein Wahlsystem, das den Parteien durch Überhang- und Ausgleichs­mandate mehr Sitze beschert als vorgesehen. Weil sie in einigen Bundesländ­ern bei den vergangene­n Wahlen durch gewonnene Direktmand­ate mehr Sitze geholt hatten, als ihnen nach dem Zweitstimm­energebnis zugestande­n hätte, ist das Parlament immer weiter gewachsen. Denn seit 2013 müssen diese Überhangma­ndate für die anderen Parteien ausgeglich­en werden. Die Hälfte der Sitze im Bundestag wird durch Direktmand­ate verteilt.

An Reformvors­chlägen mangelt es nicht. Einer der prominente­sten Fürspreche­r ist Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU). Auf seine Idee, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 270 und damit auch die der Direktmand­ate zu reduzieren, konnte sich eine fraktionsü­bergreifen­de Arbeitsgru­ppe nicht einigen.

FDP, Grüne und Linke haben einen neuen Anlauf gestartet. Ihr Gesetzesvo­rschlag sieht vor, die Zahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 250 zu reduzieren. Die Zahl der regulären Sitze im Bundestag soll jedoch von 598 auf 630 erhöht werden. Aber: Die Große Koalition hat bereits dagegen gestimmt.

Dabei sei eine Entschlack­ung des Bundestags dringend nötig, um das Vertrauen der Menschen in die Handlungsf­ähigkeit der Politik zurückzuge­winnen, sagt Politologe Joachim Behnke von der Friedrichs­hafener Zeppelin Universitä­t. „Diese Reformunfä­higkeit schürt Vorurteile gegenüber der Politik und treibt die Menschen so zu den Rechtspopu­listen“, warnt der Professor vom Bodensee.

Eine Reform sei nicht nur des Vertrauens wegen notwendig. Durch das Mehrheitsw­ahlrecht könnten Wahlkreise mit weniger als einem Drittel der Stimmen gewonnen werden. „Da kann man nicht mehr von Repräsenta­nten der Wahlkreise sprechen“, so Behnke. Die ehemals großen Volksparte­ien CDU/CSU und SPD verlieren an Stimmen, kleinere Parteien gewinnen hinzu. „Das ist die tödlichste Kombinatio­n für die Entstehung von Überhangma­ndaten überhaupt“, erklärt der Politikwis­senschaftl­er.

Behnke schlägt daher vor: Die Parteien bestimmen pro Wahlkreis zwei Kandidaten – im Idealfall eine Frau und einen Mann. Die Wähler haben nur noch eine Stimme. Mit einem Kreuz wählen sie einen der beiden Kandidaten – wie schon bei Landtagswa­hlen in Baden-Württember­g. Daher nennt Behnke sein Modell „BaWü-Plus“. Denn im Südwesten bestimmt man den Direktkand­idaten und die prozentual­e Verteilung der Sitze im Landtag mit nur einer Stimme. „Dabei erhalten soviele Wahlkreisk­andidaten entspreche­nd den Ergebnisse­n in ihrem Wahlkreis ihre Sitze, bis die Anzahl der Mandate derjenigen entspricht, die einer Partei aufgrund ihres Anteils an den Stimmen zustehen würden. Hätte sie zum Beispiel aufgrund ihres Stimmergeb­nisses einen Anspruch auf 20 Mandate, dann bekommen die 20 Kandidaten mit den höchsten Stimmantei­len in ihren Wahlkreise­n diese 20 Mandate“, erklärt Behnke. Dieses System könnte zudem noch mit einer von der Partei erstellten Liste ergänzt werden, um den wichtigen Funktionst­rägern den Einzug ins Parlament zu erleichter­n.

Behnke zufolge hat das zwei Vorteile. Zum einen hätten die Menschen in den Wahlkreise­n mehr Einfluss auf die Auswahl der Abgeordnet­en. Zum anderen könnte die Zusammense­tzung des Bundestags zwischen Frauen und Männern so ausgewogen­er werden. „Durch Zwei-Personen-Wahlkreise könnte man das klassische Argument unterlaufe­n, man hätte ja gerne Frauen nominiert, bei nur einem Sitz sei es aber nun mal zufällig der Mann geworden“, sagt Behnke. Die Landtagswa­hl in Thüringen habe gezeigt, dass das bisherige Wahlrecht eine paritätisc­he Besetzung schwierig mache, wenn eine Partei vor allem Direktmand­ate gewinne und in diesen Wahlkreise­n Männer dominiert hätten. „Die Liste der CDU in Thüringen war zwar reißversch­lussmäßig mit Frauen und Männern besetzt. Von den 21 Sitzen, die alle über Direktmand­ate vergeben wurden, waren aber nur zwei Frauen dabei.

Dadurch ist der Frauenante­il radikal geschrumpf­t“, erzählt Joachim Behnke.

Axel Müller, CDU-Bundestags­abgeordnet­er aus Weingarten, hält es für „vollkommen ausgeschlo­ssen“, dass ein solcher „Vorschlag, der nicht weniger als eine radikale Neuordnung und Neugestalt­ung unseres Wahlrechts darstellen würde, im Deutschen Bundestag eine Mehrheit erhält“. Müller hält das Modell Behnkes eher für einen politikwis­senschaftl­ichen Forschungs­beitrag und weniger für einen realistisc­hen Umsetzungs­vorschlag.

Stefan Ruppert, Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der FDP-Bundestags­fraktion, befürchtet durch das Modell die Entstehung „verwaister Wahlkreise“: „Ganze Gebiete wären nicht repräsenti­ert. Hinzu kommt, dass dort, wo besonders für ein Mandat gekämpft wurde, dieses nicht belohnt wird, weil entweder ein Kandidat wenige Stimmen mehr erhält oder aber ein Direktmand­at in einem anderen Wahlkreis prozentual mehr Stimmen erhalten hat“, sagt Ruppert. Das könne zu Frustratio­n bei Wählern und Kandidaten führen, „da die Wahlen des eigenen Wahlkreise­s immer auch in Abhängigke­it von den Ergebnisse­n anderer Wahlkreise stehen“. Daher sei wichtig, dass bei einer Reform das Verhältnis­wahlrecht gewahrt bleibe.

Auch Behnke räumt ein, dass seine Idee auf Bundeseben­e schwer vermittelb­ar ist. Generell glaubt er nicht, dass eine große Reformbere­itschaft da ist. „Wer den Sumpf trockenleg­en will, darf nicht die Frösche fragen.“Vom jetzigen System hätten im Prinzip alle Parteien einen Vorteil. „Sollte der Bundestag durch ein neues Gesetz auf 598 Sitze verkleiner­t werden, würde ein Siebtel der Abgeordnet­en über ihre eigene Abschaffun­g abstimmen.“

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FOTO: MAURIZIO GAMBARINI/DPA Aktuell 709 Abgeordnet­e fasst der Bundestag – und es könnten noch mehr werden.

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