„Gerade die Lage der Neuankömmlinge ist verzweifelt“
Nahost-Expertin Astrid Meyer über die Situation der Flüchtlinge im Nordirak – Aufruf zur Waffenruhe
- Seit 2011 herrscht in Syrien Krieg. Seitdem sind Hunderttausende auf der Flucht – vor allem innerhalb Syriens, in die Nachbarländer sowie nach Europa und in andere Drittstaaten. Mit der Militärintervention der Türkei im Nordwesten Syriens ist die Lage für die dortigen Flüchtlinge, darunter viele kurdischer und jesidischer Herkunft, noch schwieriger geworden. Viele sehen sich schon zum wiederholten Mal gezwungen zu fliehen. Mittel aus der Weihnachtsspendenaktion „Helfen bringt Freude“der „Schwäbischen Zeitung“fließen in drei der Flüchtlingscamps. Astrid Meyer ist seit 2013 als Nahost-Expertin für das Hilfswerk Misereor tätig. Im Interview mit Johannes Senk von der Katholischen Nachrichten-Agentur spricht sie über die verzweifelte Lage dieser Flüchtlinge.
Frau Meyer, Sie sind vor Kurzem von einer Reise für das Entwicklungshilfswerk Misereor in den Nordirak zurückgekehrt. Welchen Eindruck haben Sie von der dortigen politischen Situation?
Das Ganze ist sehr komplex. Die Situation in der Region ist hoch explosiv. Alleine im Nordirak könnte die Lage jederzeit eskalieren. Zwischen Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, und Bagdad gibt es seit Jahren viele Zerwürfnisse. Außerdem gibt es verschiedene rivalisierende Milizen. Eine der einflussreichsten davon ist die von Iran unterstützte schiitische Haschd asch-Schabi, die von der Bevölkerung sehr gefürchtet wird. Erschwerend hinzu kommt jetzt noch das türkische Militär, dessen Aktionen, wie wir jetzt gesehen haben, sehr viel weiter greifen als erwartet wurde. Mit ihrem vielfältigen Engagement im Bereich der Flüchtlings- und Migrantenhilfe steht die Kirche an der Seite aller Schutzbedürftigen und Notleidenden: durch Beratung, Seelsorge, materielle Unterstützung und den stetigen Dialog mit Politik und Gesellschaft.
Wie ist die Situation für die Flüchtlinge vor Ort? Lassen sich noch Strukturen erkennen oder herrscht Chaos?
Das kommt darauf an. In den Flüchtlingscamps im Nordirak sind Strukturen erkennbar. Aber in den letzten Jahren gingen die Mittel stetig zurück. Und das obwohl alleine im Regierungsbezirk Dohuk – an der Grenze zu Syrien und zur Türkei – schon seit Jahren rund 385 000 Binnenvertriebene leben. Die Grundversorgung in den Camps wird immer dürftiger. Die Menschen bekommen noch gerade das, was sie zum Leben brauchen.
Wie gestaltet sich die Situation außerhalb der Flüchtlingscamps?
Schwierig. Es gibt kaum systematische Erhebungen, um zu wissen, wo sich welche Vertriebenen aufhalten und wie es denen geht. Außerhalb der Camps werden die Menschen allgemein in vier Kategorien unterteilt: Flüchtlinge, Binnenvertriebene, ansässige Bevölkerung und Rückkehrer. Ich bezweifle allerdings, dass diese Kategorien angesichts einer seit Jahren andauernden Krise noch sinnvoll sind.
Wie ist die Situation der Betroffenen?
Es ist frustrierend. Gerade die Lage der Neuankömmlinge ist verzweifelt. Zwischen den einzelnen Gruppen gibt es allerdings noch Unterschiede: So werden die Syrer als fleißige Arbeitskräfte im Irak noch durchaus geschätzt, auch wenn sie Gefahr laufen, ausgebeutet zu werden. Bei den Jesiden ist das deutlich schlimmer. Sie haben im Prinzip keine Hoffnung auf Rückkehr. Über die Jahre verfallen viele in eine gewisse Lethargie und fühlen sich wie Menschen zweiter Klasse. Sie brauchen unbedingt Unterstützung.
Angenommen, es käme zu einer dauerhaften Waffenruhe in Syrien: Welche Perspektive hätten die Binnenvertriebenen?
Sie haben die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Wer kann, versucht über die „grüne Grenze“, also die inoffiziellen Grenzübergänge, in den Nordirak zu kommen. Bereits verarmte Familien stehen deswegen nun noch unter dem weiteren Druck hoher Verschuldung, weil die Schleuser hohe Summen verlangen.
Inwieweit ist es für Sie noch möglich, den Menschen in den Krisengebieten zu helfen?
In Nordsyrien ist momentan keine Hilfe möglich. Im Nordirak sieht das noch etwas anders aus. Diejenigen, die in den kurdischen Nordosten Syriens geflohen sind, haben in der Regel bereits mehr als eine Flucht hinter sich. Wenn sie nun in die Hände der syrischen Sicherheitskräfte fallen, drohen sie unter Generalverdacht als Rebellen oder Extremisten zu stehen.
Welche Schritte müssten jetzt auf internationaler Ebene getan werden, um den Menschen zu helfen?
An erster Stelle muss es in Nordsyrien Waffenruhe geben. Und die Zeit muss genutzt werden, um die Voraussetzungen für humanitäre Hilfe zu schaffen, für alle Bedürftigen.