Iller so blau, so blau
Bildband über eine Flussreise vom Allgäu bis Ulm mit Manfred Thierer und einem Fotografenteam
I llerbeuren, Illerfeld, Illerbachen, Illereichen, Illertissen, Illerrieden, Illerberg, Illerzell, Illerkirchberg … Diese Aufzählung lässt erkennen, wie stark doch ein Fluss eine Landschaft prägt. 146 Kilometer legt die Iller von ihrem Ursprung im Allgäu bis zur Mündung in die Donau bei Ulm zurück. Überschaubar – und doch wartet sie an ihren Ufern mit einer Fülle der schillerndsten Eindrücke auf. Zu erleben ist dieses Kaleidoskop in Manfred Thierers bildschönem und ungemein informationsfreudigen Band „Die Iller“aus der Biberacher Verlagsdruckerei – Regionalliteratur von souveränem Zuschnitt.
Mehr als 250 Fotos – davon sehr viele generös über zwei Seiten hinweg – sorgen allein schon für eine spannungsreiche Mixtur. Der Autor, früher Professor für Geografie am Seminar für Lehrerbildung in Weingarten und noch immer hochmotivierter Heimatpfleger sowie Verfasser zahlreicher landeskundlicher Publikationen, hat selbst zur Kamera gegriffen. Aber Thierer sicherte sich auch die Zuarbeit von sehr versierten Fotografen: Roland Schraut, Volker Strohmaier, Naturfoto Hofmann Kempten und Heinz Mauch, der Luftaufnahmen beisteuerte.
Die Ausbeute ist fulminant: Schäumendes Wildwasser und gleißender Schnee, stilles Moor und tosende Klamm, Paraglider über schroffen Gipfeln und Schwäne vor sanften Ufern, Abendrot am Stauwehr und Viehscheid unterm Herbsthimmel, buntes Gewusel auf der Festspielbühne und einsamer Radfahrer vor einem Feldkreuz – Kontraste beleben die Optik in einem variablen Layout. Und wenn der Blick beim Durchblättern von idyllischen Flussauen zu riesigen Industrieanlagen schwenkt und von der Barockbasilika zum Biberbau, so wird spürbar, wie sehr an einem solchen Fluss Naturbelassenheit und Menschenwerk in stete Wechselbeziehung treten.
Thierers Text greift diese Polarität auf und untermauert den visuellen Eindruck durch akribisch zusammengetragenes Material. Natürlich war am Anfang ein bienenfleißiges Quellenstudium zu leisten. Aber das Resultat hat nun nie den Anstrich von Angelesenem. Ohnehin ist es zu einem Gutteil aus dem immensen Fundus des Autors gespeist. Zudem war er unermüdlich an der Iller zugange, ließ die Orte auf sich wirken und sprach mit den Leuten.
Eingeteilt hat er das Buch in drei Kapitel: 1. die wilde Iller, 2. die lebhafte Iller, 3. die gebändigte Iller – dem Flusslauf von Süden nach Norden folgend. Aber da Thierer mit einer mühelos wirkenden Dramaturgie abwechselnd alle Facetten – Natur, Kultur, Geschichte, Politik, Stadtbild, Dorfleben, Wirtschaft, Landwirtschaft, Industrie etc. – in den Blick nimmt, wird die Lektüre nie langweilig. Im Gegenteil: Man liest sich gerne fest.
Dass der Autor von Haus aus Geograf ist, kommt vor allem am Anfang zum Tragen, wo es um die Entstehungsgeschichte der Landschaft geht, um die Auffaltung der Alpen, um das Hobelwerk der Gletscher oder um das Gemenge der Nagelfluh. Da versteht auch der Laie, was einst abging unterhalb der Mädelegabel, als sich die drei Quellflüsse der Iller – Trettach, Stillach und Breitach – ihren Weg bahnen mussten, um sich dann nahe Oberstdorf zur Iller zu vereinen.
Dann startet der lebhafte Streifzug durch jenen einst einheitlichen Kultur- und Sprachraum, also Schwaben links und rechts der Iller, der in der Folge der napoleonischen Kriege nach 1806 zerrissen wurde und heute unter Baden-Württemberg und Bayern aufgeteilt ist. Ein paar Schlaglichter müssen genügen: Wir werden informiert über den Unterschied zwischen den „Hornbauern“am Oberlauf und den „Kornbauern“am Unterlauf. Wir erleben ein Naturwunder wie die Breitachklamm, einst als „Teufelswerk“verschrien, heute Touristenmagnet. Wir nehmen zur Kenntnis, dass man auf Burg Langenegg 1775 die letzte deutsche „Hexe“einsperrte. Wir erfahren, wie aufgewühlt Memmingen und Kempten in der Reformationszeit waren. Wir hören, dass der große Theologe Romano Guardini nach 1943 in Mooshausen von der Gestapo bespitzelt wurde. Wir staunen, wie Liebherr aus kleinsten Anfängen in Kirchdorf zur Weltfirma aufstieg. Und wir begreifen, was es mit der Begradigung der Iller auf sich hatte, die heute zum Teil wieder renaturiert wird – im Schulterschluss der beiden Bundesländer.
Dass Thierer sich auch bei der sakralen Kunst bestens auskennt, beweisen die Abstecher zu Klöstern und Kirchen wie Ottobeuren, Maria Steinbach, Buxheim, Roggenburg oder Wiblingen. Kurze pointierte Künstlerporträts gibt es auch sowie kleine, feine Reportagen, etwa über Fischbestand und Flößerei. Und eine besonders anrührende Passage wird man nicht vergessen: Thierers Besuch des jüdischen Friedhofs von Altenstadt: Rund 400 jüdische Bürger lebten um 1830 in jenem Ort, bei nur 100 Christen. 1942 waren noch 23 übrig – und 1945 keiner mehr.
Kurz vor Ulm und Neu-Ulm mündet die Iller in die Donau. Wobei die Iller mit ihrer Fließgeschwindigkeit von 71 Kubikmetern/Sekunde gegenüber den 51 der Konkurrentin entschieden potenter daherkommt. Also müsste die Donau ab Ulm eigentlich Iller heißen, und vom Allgäu ginge es über Wien – Iller so blau, so blau – bis ans Schwarze Meer. Aber die Iller ist auch so ein imposanter Fluss.