Todespfleger wollte wohl in Ruhe stehlen
Grzegorz W. soll sechs alte Menschen getötet haben, um sie zu beklauen – In München hat jetzt der Prozess gegen den 38-jährigen Polen begonnen
MÜNCHEN/SPAICHINGEN - An jenem Juliabend im Jahr 2017 geht Gisela A. in ihrem Haus in Spaichingen früh zu Bett – und zwar „vertrauensselig“, wie es später in der Anklageschrift heißen wird. Schließlich habe die 87-jährige demenzkranke Frau zu diesem Zeitpunkt keinesfalls mit einem Angriff auf ihr Leben „in ihren eigenen vier Wänden“rechnen können. Doch dann betritt ein Mann ihr Schlafzimmer, der erst tags zuvor als Hilfspfleger im Haus von Gisela A. angefangen hat – Grzegorz W.
Wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft München I stimmen, dann hat der 38-jährige Pole in den vorhergehenden Monaten bereits zwei ältere Menschen ermordet und selbiges bei drei weiteren versucht. Dabei sei der Hilfspfleger stets nach einem ähnlichen Schema vorgegangen: Er spritzte den Senioren, um die er sich kümmern sollte, hohe Dosen von Insulin – wobei er als Diabetiker genau wusste, welche potenziell tödlichen Folgen dies hatte.
Bei seinen Taten nutzte Grzegorz W. der Staatsanwaltschaft zufolge die Wehrlosigkeit seiner Opfer aus – so wie bei Gisela A. in Spaichingen. Der schlafenden Frau spritzt der Hilfspfleger drei- bis viermal je 40 Milligramm Insulin in den Arm. Danach durchsucht er seelenruhig die Wohnung nach Wertgegenständen, ehe er sich schlafen legt. Als Grzegorz W. am nächsten Morgen das Zimmer von Gisela A. betritt, ist diese bereits tot – worauf er den Sohn der 87-Jährigen verständigt.
Dieser Sohn und auch die Tochter der Verstorbenen sind am Dienstag ins Landgericht München gekommen, wo sie im Prozess gegen Grzegorz W. als Nebenkläger auftreten. Sechs Morde werden ihm zur Last gelegt, dazu drei versuchte Morde und mehrere Fälle der schweren Körperverletzung. In ganz Deutschland soll der Hilfspfleger zugeschlagen haben, dessen Taten an den Serienmörder Niels Högel erinnern, der voriges Jahr vom Landgericht Oldenburg zu lebenslanger Haft verurteilt wurde – wegen Mordes in 85 Fällen. Der 42-Jährige hatte Patienten in zwei Krankenhäusern durch das Spritzen von Medikamenten in Lebensgefahr gebracht, nur um sie anschließend als Pfleger zu retten – was in zig Fällen jedoch nicht gelang.
Motiv: Habgier
Bei Niels Högel war Geltungssucht das Motiv für die größte Mordserie der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte. Grzegorz W. dagegen hatte es laut der Staatsanwaltschaft auf Wertgegenstände abgesehen, weshalb er auch wegen Raub und Diebstahl angeklagt ist. Dabei soll der 38Jährige seinen Opfern nicht nur Bargeld, Schmuck und in einem Fall auch ein Bundesverdienstkreuz entwendet haben, sondern auch so profane Dinge wie Wein, Waschmittel, Toilettenpapier und zwei Klobürsten.
Die Anklage geht von Heimtücke, Habgier und niedrigen Beweggründen aus. Überdies habe Grzegorz W. den älteren Menschen Insulin gespritzt, wenn ihn etwas an seiner Arbeitsstelle
gestört habe. In der Anklageschrift ist von verschiedenen Nichtigkeiten die Rede, die den Hilfspfleger erbost hätten: Mal war es die Kritik von Angehörigen an seiner Arbeitsweise, mal gab’s keinen Internetzugang oder zu wenige Lebensmittel im Haushalt, und mal ärgerte er sich, weil er nachts aufstehen musste.
Am ersten Prozesstag betritt Grzegorz W. den Sitzungssaal 101 und schiebt seinen massigen Körper langsam in Richtung Anklagebank – verfolgt von Dutzenden Objektiven. Er wolle sein Gesicht vor den Fotografen nicht bedecken, hat er zuvor seiner Verteidigerin gesagt. Lediglich seine Augenpartie solle man auf den Bildern unkenntlich machen. Der kleine Mann mit dem voluminösen Bauch trägt ein gestreiftes TShirt und darüber eine hellblaue Strickjacke. Unter den geschorenen Haaren verschwinden seine Augen fast in den Augenhöhlen – was dazu beiträgt, dass er wesentlich älter wirkt als 38 Jahre.
Weitgehend regungslos, die Arme auf dem Bauch verschränkt, verfolgt Grzegorz W. anschließend, wie die zwei Staatsanwältinnen eine Dreiviertelstunde lang die 32-seitige Anklageschrift verlesen. Sie umfasst zwölf Fälle zwischen April 2017 und Februar 2018 – dabei starb nicht nur in Spaichingen ein Mensch, sondern auch im schleswig-holsteinischen Burg, in Hannover sowie in den bayerischen Gemeinden Wiesenbronn, Eckental und Ottobrunn. Die Opfer waren zwischen 66 und 91 Jahre alt; Grzegorz W. wohnte bei ihnen im Haus als 24-Stunden-Hilfspfleger – vermittelt von verschiedenen Agenturen in Polen und der Slowakei.
In Eckental beispielsweise – nur drei Wochen vor seinem Einsatz in Spaichingen – sollte sich der Angeklagte um einen 77-Jährigen kümmern. Laut Staatsanwaltschaft habe er sich dort durch die Besuche von Verwandten gestört gefühlt; sie hätten ihn zudem daran gehindert, „das Haus in Ruhe nach stehlenswerten Gegenständen zu durchsuchen“. Als er dann auch noch in der ersten Nacht mehrmals aufstehen musste, um den älteren Herrn zu versorgen, habe er beschlossen, den Job in Eckental aufzugeben.
Bei einer vorzeitigen Kündigung hätte Grzegorz W. jedoch eine Vertragsstrafe von 850 Euro gedroht. Also fasste er den Plan, den 77-Jährigen mittels mehrerer Insulinspritzen „in einen akut behandlungsbedürftigen Zustand zu versetzen“, damit der Mann ins Krankenhaus müsse und er das Haus verlassen könne, so die Anklage. „Er stellte dabei seine eigenen Bedürfnisse sowie sein rücksichtsloses Gewinnstreben um jeden Preis in krasser Eigensucht über das Lebensrecht des Geschädigten.“Dieser starb infolge der Injektionen, während Grzegorz W. kurz darauf abreiste – mit gestohlenen Ringen und Halsketten im Gepäck.
Erst im Januar 2018, nach dem Tod eines 84-Jährigen in Ottobrunn bei München, nahm die Polizei den Hilfspfleger fest. Zuvor hatte der Arzt bei der Leichenschau mehrere Einstichstellen festgestellt; noch am selben Tag wurde Grzegorz W. erst verhört und danach in Untersuchungshaft genommen. In der Folge kamen immer mehr Fälle ans Licht, zumal die Ermittler per Öffentlichkeitsaufruf und über die Fernsehserie „Aktenzeichen XY“nach weiteren Einsatzorten des Mannes suchten, den die Medien alsbald „Todespfleger“tauften. Dabei hatte es schon zuvor mehrere Hinweise auf Grzegorz W. gegeben – etwa nach einem Vorfall in Mühlheim an der Ruhr, wo die Tochter eines Verstorbenen Anzeige gegen den Hilfspfleger erstattete. Doch die Kriminalpolizei in Essen ging der Sache nur halbherzig nach. Dort wurden nach dem Todesfall in Ottobrunn mehrere Beamte vom Dienst suspendiert.
„Meine Mandanten wollen den Prozess miterleben, weil viele Fragen noch offen sind“, sagt Bernhard Mussgnug, Anwalt aus Tuttlingen, der die Kinder von Gisela A. im Prozess vertritt. Schon vor der Tat in Spaichingen habe es zwei Verdachtsfälle gegeben. „Warum sind die Ermittlungsbehörden der Sache nicht früher nachgegangen?“, fragt Mussgnug. Zudem verweist der Anwalt auf die Leichenschauen nach den ersten Todesfällen. Wären diese „professioneller“durchgeführt worden, so der Anwalt, „dann hätte man vielleicht früher etwas erkennen können“.
Zu diesen und weiteren Fragen erhoffen sich die Angehörigen Antworten im Prozess. Ob Grzegorz W. hierzu etwas beitragen wird, darf indes bezweifelt werden. Ihr Mandant werde sich derzeit nicht äußern, sagt Verteidigerin Birgit Schwerdt zu Prozessbeginn – weder zur Sache noch zu seinen persönlichen Verhältnissen. Und so ist es wenig später an dem psychiatrischen Gutachter Matthias Hollweg, anhand seiner Gespräche mit dem Angeklagten etwas Licht in dessen Wesen und Lebenslauf zu bringen.
Seit 2015 in deutschen Haushalten
Grzegorz W. sei in Polen aufgewachsen und seinen Angaben zufolge schon immer „eher ein Einzelgänger“gewesen, sagt der Gutachter – weder habe er echte Freunde noch je eine Partnerin gehabt. Bereits als Heranwachsender habe er erste Diebstähle begangen und mehrere Jahre in Erziehungsheimen verbracht. Von 2008 bis 2014 saß Grzegorz W. in Polen wegen „Betrugsdelikten“im Gefängnis. Nach seiner Freilassung sattelte der gelernte Schlossermechaniker zum Hilfspfleger um und absolvierte hierfür einen 120-stündigen Kurs. In der Folge vermittelten ihn verschiedenen Agenturen ab Herbst 2015 an 69 Haushalte in ganz Deutschland, wo er als Hilfskraft und 24-Stunden-Betreuer tätig war, mitunter nur wenige Tage lang.
Zu den Taten, die ihm vorgeworfen werden, habe Grzegorz W. – auf Anraten seiner Verteidigerin – auch ihm gegenüber nichts sagen wollen, berichtet der Gutachter. Jedoch habe sich der 38-Jährige mehrfach „spontan“geäußert. So habe er unter anderem von „Morden an alten Menschen“gesprochen, von „Gewissensbissen“und davon, dass er seine Taten „natürlich zutiefst bereue“. Zudem habe er dem Arzt gegenüber gesagt, er sei „psychisch und physisch darauf vorbereitet, eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verbüßen.“
Für den Prozess sind 39 Verhandlungstage angesetzt. Mit einem Urteil wird Mitte kommenden Jahres gerechnet.