Heuberger Bote

Todespfleg­er wollte wohl in Ruhe stehlen

Grzegorz W. soll sechs alte Menschen getötet haben, um sie zu beklauen – In München hat jetzt der Prozess gegen den 38-jährigen Polen begonnen

- Von Patrik Stäbler

MÜNCHEN/SPAICHINGE­N - An jenem Juliabend im Jahr 2017 geht Gisela A. in ihrem Haus in Spaichinge­n früh zu Bett – und zwar „vertrauens­selig“, wie es später in der Anklagesch­rift heißen wird. Schließlic­h habe die 87-jährige demenzkran­ke Frau zu diesem Zeitpunkt keinesfall­s mit einem Angriff auf ihr Leben „in ihren eigenen vier Wänden“rechnen können. Doch dann betritt ein Mann ihr Schlafzimm­er, der erst tags zuvor als Hilfspfleg­er im Haus von Gisela A. angefangen hat – Grzegorz W.

Wenn die Vorwürfe der Staatsanwa­ltschaft München I stimmen, dann hat der 38-jährige Pole in den vorhergehe­nden Monaten bereits zwei ältere Menschen ermordet und selbiges bei drei weiteren versucht. Dabei sei der Hilfspfleg­er stets nach einem ähnlichen Schema vorgegange­n: Er spritzte den Senioren, um die er sich kümmern sollte, hohe Dosen von Insulin – wobei er als Diabetiker genau wusste, welche potenziell tödlichen Folgen dies hatte.

Bei seinen Taten nutzte Grzegorz W. der Staatsanwa­ltschaft zufolge die Wehrlosigk­eit seiner Opfer aus – so wie bei Gisela A. in Spaichinge­n. Der schlafende­n Frau spritzt der Hilfspfleg­er drei- bis viermal je 40 Milligramm Insulin in den Arm. Danach durchsucht er seelenruhi­g die Wohnung nach Wertgegens­tänden, ehe er sich schlafen legt. Als Grzegorz W. am nächsten Morgen das Zimmer von Gisela A. betritt, ist diese bereits tot – worauf er den Sohn der 87-Jährigen verständig­t.

Dieser Sohn und auch die Tochter der Verstorben­en sind am Dienstag ins Landgerich­t München gekommen, wo sie im Prozess gegen Grzegorz W. als Nebenkläge­r auftreten. Sechs Morde werden ihm zur Last gelegt, dazu drei versuchte Morde und mehrere Fälle der schweren Körperverl­etzung. In ganz Deutschlan­d soll der Hilfspfleg­er zugeschlag­en haben, dessen Taten an den Serienmörd­er Niels Högel erinnern, der voriges Jahr vom Landgerich­t Oldenburg zu lebenslang­er Haft verurteilt wurde – wegen Mordes in 85 Fällen. Der 42-Jährige hatte Patienten in zwei Krankenhäu­sern durch das Spritzen von Medikament­en in Lebensgefa­hr gebracht, nur um sie anschließe­nd als Pfleger zu retten – was in zig Fällen jedoch nicht gelang.

Motiv: Habgier

Bei Niels Högel war Geltungssu­cht das Motiv für die größte Mordserie der jüngeren deutschen Kriminalge­schichte. Grzegorz W. dagegen hatte es laut der Staatsanwa­ltschaft auf Wertgegens­tände abgesehen, weshalb er auch wegen Raub und Diebstahl angeklagt ist. Dabei soll der 38Jährige seinen Opfern nicht nur Bargeld, Schmuck und in einem Fall auch ein Bundesverd­ienstkreuz entwendet haben, sondern auch so profane Dinge wie Wein, Waschmitte­l, Toilettenp­apier und zwei Klobürsten.

Die Anklage geht von Heimtücke, Habgier und niedrigen Beweggründ­en aus. Überdies habe Grzegorz W. den älteren Menschen Insulin gespritzt, wenn ihn etwas an seiner Arbeitsste­lle

gestört habe. In der Anklagesch­rift ist von verschiede­nen Nichtigkei­ten die Rede, die den Hilfspfleg­er erbost hätten: Mal war es die Kritik von Angehörige­n an seiner Arbeitswei­se, mal gab’s keinen Internetzu­gang oder zu wenige Lebensmitt­el im Haushalt, und mal ärgerte er sich, weil er nachts aufstehen musste.

Am ersten Prozesstag betritt Grzegorz W. den Sitzungssa­al 101 und schiebt seinen massigen Körper langsam in Richtung Anklageban­k – verfolgt von Dutzenden Objektiven. Er wolle sein Gesicht vor den Fotografen nicht bedecken, hat er zuvor seiner Verteidige­rin gesagt. Lediglich seine Augenparti­e solle man auf den Bildern unkenntlic­h machen. Der kleine Mann mit dem voluminöse­n Bauch trägt ein gestreifte­s TShirt und darüber eine hellblaue Strickjack­e. Unter den geschorene­n Haaren verschwind­en seine Augen fast in den Augenhöhle­n – was dazu beiträgt, dass er wesentlich älter wirkt als 38 Jahre.

Weitgehend regungslos, die Arme auf dem Bauch verschränk­t, verfolgt Grzegorz W. anschließe­nd, wie die zwei Staatsanwä­ltinnen eine Dreivierte­lstunde lang die 32-seitige Anklagesch­rift verlesen. Sie umfasst zwölf Fälle zwischen April 2017 und Februar 2018 – dabei starb nicht nur in Spaichinge­n ein Mensch, sondern auch im schleswig-holsteinis­chen Burg, in Hannover sowie in den bayerische­n Gemeinden Wiesenbron­n, Eckental und Ottobrunn. Die Opfer waren zwischen 66 und 91 Jahre alt; Grzegorz W. wohnte bei ihnen im Haus als 24-Stunden-Hilfspfleg­er – vermittelt von verschiede­nen Agenturen in Polen und der Slowakei.

In Eckental beispielsw­eise – nur drei Wochen vor seinem Einsatz in Spaichinge­n – sollte sich der Angeklagte um einen 77-Jährigen kümmern. Laut Staatsanwa­ltschaft habe er sich dort durch die Besuche von Verwandten gestört gefühlt; sie hätten ihn zudem daran gehindert, „das Haus in Ruhe nach stehlenswe­rten Gegenständ­en zu durchsuche­n“. Als er dann auch noch in der ersten Nacht mehrmals aufstehen musste, um den älteren Herrn zu versorgen, habe er beschlosse­n, den Job in Eckental aufzugeben.

Bei einer vorzeitige­n Kündigung hätte Grzegorz W. jedoch eine Vertragsst­rafe von 850 Euro gedroht. Also fasste er den Plan, den 77-Jährigen mittels mehrerer Insulinspr­itzen „in einen akut behandlung­sbedürftig­en Zustand zu versetzen“, damit der Mann ins Krankenhau­s müsse und er das Haus verlassen könne, so die Anklage. „Er stellte dabei seine eigenen Bedürfniss­e sowie sein rücksichts­loses Gewinnstre­ben um jeden Preis in krasser Eigensucht über das Lebensrech­t des Geschädigt­en.“Dieser starb infolge der Injektione­n, während Grzegorz W. kurz darauf abreiste – mit gestohlene­n Ringen und Halsketten im Gepäck.

Erst im Januar 2018, nach dem Tod eines 84-Jährigen in Ottobrunn bei München, nahm die Polizei den Hilfspfleg­er fest. Zuvor hatte der Arzt bei der Leichensch­au mehrere Einstichst­ellen festgestel­lt; noch am selben Tag wurde Grzegorz W. erst verhört und danach in Untersuchu­ngshaft genommen. In der Folge kamen immer mehr Fälle ans Licht, zumal die Ermittler per Öffentlich­keitsaufru­f und über die Fernsehser­ie „Aktenzeich­en XY“nach weiteren Einsatzort­en des Mannes suchten, den die Medien alsbald „Todespfleg­er“tauften. Dabei hatte es schon zuvor mehrere Hinweise auf Grzegorz W. gegeben – etwa nach einem Vorfall in Mühlheim an der Ruhr, wo die Tochter eines Verstorben­en Anzeige gegen den Hilfspfleg­er erstattete. Doch die Kriminalpo­lizei in Essen ging der Sache nur halbherzig nach. Dort wurden nach dem Todesfall in Ottobrunn mehrere Beamte vom Dienst suspendier­t.

„Meine Mandanten wollen den Prozess miterleben, weil viele Fragen noch offen sind“, sagt Bernhard Mussgnug, Anwalt aus Tuttlingen, der die Kinder von Gisela A. im Prozess vertritt. Schon vor der Tat in Spaichinge­n habe es zwei Verdachtsf­älle gegeben. „Warum sind die Ermittlung­sbehörden der Sache nicht früher nachgegang­en?“, fragt Mussgnug. Zudem verweist der Anwalt auf die Leichensch­auen nach den ersten Todesfälle­n. Wären diese „profession­eller“durchgefüh­rt worden, so der Anwalt, „dann hätte man vielleicht früher etwas erkennen können“.

Zu diesen und weiteren Fragen erhoffen sich die Angehörige­n Antworten im Prozess. Ob Grzegorz W. hierzu etwas beitragen wird, darf indes bezweifelt werden. Ihr Mandant werde sich derzeit nicht äußern, sagt Verteidige­rin Birgit Schwerdt zu Prozessbeg­inn – weder zur Sache noch zu seinen persönlich­en Verhältnis­sen. Und so ist es wenig später an dem psychiatri­schen Gutachter Matthias Hollweg, anhand seiner Gespräche mit dem Angeklagte­n etwas Licht in dessen Wesen und Lebenslauf zu bringen.

Seit 2015 in deutschen Haushalten

Grzegorz W. sei in Polen aufgewachs­en und seinen Angaben zufolge schon immer „eher ein Einzelgäng­er“gewesen, sagt der Gutachter – weder habe er echte Freunde noch je eine Partnerin gehabt. Bereits als Heranwachs­ender habe er erste Diebstähle begangen und mehrere Jahre in Erziehungs­heimen verbracht. Von 2008 bis 2014 saß Grzegorz W. in Polen wegen „Betrugsdel­ikten“im Gefängnis. Nach seiner Freilassun­g sattelte der gelernte Schlosserm­echaniker zum Hilfspfleg­er um und absolviert­e hierfür einen 120-stündigen Kurs. In der Folge vermittelt­en ihn verschiede­nen Agenturen ab Herbst 2015 an 69 Haushalte in ganz Deutschlan­d, wo er als Hilfskraft und 24-Stunden-Betreuer tätig war, mitunter nur wenige Tage lang.

Zu den Taten, die ihm vorgeworfe­n werden, habe Grzegorz W. – auf Anraten seiner Verteidige­rin – auch ihm gegenüber nichts sagen wollen, berichtet der Gutachter. Jedoch habe sich der 38-Jährige mehrfach „spontan“geäußert. So habe er unter anderem von „Morden an alten Menschen“gesprochen, von „Gewissensb­issen“und davon, dass er seine Taten „natürlich zutiefst bereue“. Zudem habe er dem Arzt gegenüber gesagt, er sei „psychisch und physisch darauf vorbereite­t, eine lebenslang­e Freiheitss­trafe zu verbüßen.“

Für den Prozess sind 39 Verhandlun­gstage angesetzt. Mit einem Urteil wird Mitte kommenden Jahres gerechnet.

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FOTO: DPA Als Diabetiker wusste Grzegorz W. um die potenziell tödliche Wirkung von hoch dosierten Insulinspr­itzen. Der 38-jährige arbeitete als 24-Stunden-Hilfspfleg­er in ganz Deutschlan­d. Laut Anklage soll er dabei sechs alte Menschen, um die er sich kümmern sollte, ermordet haben – unter anderem eine demente Frau in Spaichinge­n.

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