Heuberger Bote

Filz über der Türkei

Die Regierungs­partei AKP galt lange als Vertreteri­n des einfachen Volks – Jetzt verprellt sie ihre Wähler mit protzigem Auftreten

- Von Susanne Güsten

- Stoßstange an Stoßstange stehen die Autos im abendliche­n Berufsverk­ehr auf der Istanbuler Autobahn. Da rast von hinten ein Wagen mit blau-roten Springlich­tern im Kühlergril­l auf der Standspur heran und zieht an den Wartenden vorbei. Dass die Buchstaben „AK“auf dem Nummernsch­ild stehen, wundert niemanden im Stau: Das Auto mit den Sonderrech­ten gehört offenbar einem Funktionär der AK-Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Und die dürfen in der Türkei von heute fast alles.

Fast täglich zeigt Erdogans Elite nach Ansicht ihrer Kritiker, wie sehr sie sich nach 17 Jahren an der Regierung von der Welt der Normalbürg­er entfernt hat. Unverblümt stellt die islamisch-konservati­ve Führungssc­hicht ihren Wohlstand zur Schau, während Millionen Türken wegen der Wirtschaft­skrise nicht wissen, wie sie mit einem Mindeslohn von umgerechne­t rund 400 Euro im Monat über die Runden kommen sollen. Mitglieder der AKP-Seilschaft­en geben sich immer weniger Mühe, Korruption und Vetternwir­tschaft zu verschleie­rn.

Das neueste Beispiel lieferte Ahmet Emin Söylemez, ein Geschäftsm­ann und ehemaliger AKP-Staatssekr­etär im Gesundheit­sministeri­um, mit seiner Frau Büsra Nur Calar Söylemez. Die Geburt ihres Kindes feierten die beiden mit 150 Gästen in einem Prunksaal, wo das Neugeboren­e einen Brillantri­ng an den Finger gesteckt bekam. Fotos und Videos von der Feier wurden in den sozialen Medien verbreitet – während die Türkei über eine Selbstmord­serie von Arbeitslos­en redete, die aus Verzweiflu­ng Zyankali schluckten.

Selbst in islamisch-konservati­ven Kreisen trifft die Prunkshow auf Kritik. Früher hätten die Islamisten die westliche Oberschich­t wegen ihrer Protzerei kritisiert, schrieb der Kommentato­r Ömer Turan auf Twitter. „Jetzt, wo wir die Gelegenhei­t dazu haben, machen wir alles genauso – nur noch schlimmer.“

Söylemez und seine islamisch verhüllte Frau gehören zu einer neuen Gesellscha­ftsschicht, die in den vergangene­n anderthalb Jahrzehnte­n unter der Erdogan-Regierung entstanden ist. Konservati­ve Aufsteiger wie sie haben die traditione­ll säkulär geprägten Eliten aus den Führungspo­sitionen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik verdrängt. Häufig ist das AKP-Parteibuch eine Voraussetz­ung, um beruflich weiterzuko­mmen. Der angesehene Meinungsfo­rscher Bekir Agridir sieht in dieser Vetternwir­tschaft die schlimmste Fehlleistu­ng der AKP in den vergangene­n Jahren. In früheren Zeiten sei es trotz aller Wohlstands­unterschie­de in der Türkei für einen armen Jungen vom Land möglich gewesen, mit Talent und Fleiß an die besten Universitä­ten des Landes und in hohe Ämter zu kommen, sagte Agridir der Nachrichte­nplattform T24. „Heute muss man das Einverstän­dnis der AKP haben, wenn man beispielsw­eise Bankdirekt­or werden will.“

Die Günstlings­wirtschaft hat sich im ganzen Land verbreitet. Im zentralana­tolischen Konya verschafft­e ein Universitä­tsrektor und früherer AKP-Parlaments­abgeordnet­er nach Medienberi­chten einem befreundet­en Geschäftsm­ann eine hochrangig­e Beamtenpos­ition in seiner Hochschule – während der Sohn des Rektors als Vorstandsm­itglied ins Unternehme­n des frisch gebackenen Beamten eintrat. Vier von fünf Führungsmi­tgliedern der halbstaatl­ichen Fluggesell­schaft Turkish Airlines haben dieselbe religiöse Oberschule wie Erdogans Sohn Bilal besucht, wie die Zeitung „Sözcü“meldete. Mit einer „Mafia-Organisati­on“vergleicht der Parlaments­abgeordnet­e Ahmet Sik die Regierung. Manche werfen der AKP sogar vor, sie gehe über Leichen. Der Vater eines elfjährige­n Mädchens in Eynesil am Schwarzen Meer, das angeblich Selbstmord begangen haben soll, verdächtig­t lokale AKP-Politiker, die wahre Ursache für den Tod seiner Tochter vertuschen zu wollen.

Er ist überzeugt, dass seine Tochter von dem Neffen eines AKP-Vertreters überfahren wurde. Hochrangig­e Parteivert­reter hätten sich eingeschal­tet, um die Sache unter den Tisch zu kehren, behauptet der Vater des Kindes. Die Polizei nahm ihn und Journalist­en, die in dem Fall recherchie­ren wollten, vorübergeh­end fest.

„Ak“bedeutet „weiß“auf Türkisch: Als Partei der weißen Weste trat die AKP im Jahr 2001 an, um die korrupte und unfähige Politikerr­iege in Ankara zu verdrängen. Wirtschaft­liche und politische Reformen, Transparen­z, Meinungsfr­eiheit und

Dienst am Bürger hatte sich Erdogans Partei auf die Fahnen geschriebe­n. Damit feierte sie im ersten Jahrzehnt nach ihrem Regierungs­antritt im November 2002 große Erfolge. Inzwischen habe die Partei ihre Grundwerte aber zugunsten eines Personenku­lts um Erdogan aufgegeben, finden Aussteiger wie der Rechtspoli­tiker Mustafa Yeneroglu, der kürzlich sein AKP-Parteibuch zurückgab. Im Parteivors­tand werde Kritik als „Respektlos­igkeit“gegen Erdogan abgebügelt, berichtete Yeneroglu kürzlich in der Zeitung „Karar“.

Yeneroglu hat die Konsequenz­en gezogen, und auch andere kehren der Partei den Rücken. Habibe Ciftcioglu, eine frühere AKP-Vizechefin in der Metropole Istanbul, gab jetzt ebenfalls ihren Parteiaust­ritt bekannt. Sie erkenne ihre Partei nicht wieder, erklärte sie. An die Stelle politische­r Werte sei die „Raffgier“getreten.

Diese Entfremdun­g ist ein wichtiger Grund für die Niederlage der AKP bei den Kommunalwa­hlen im Frühjahr. Etwa 80 Prozent der AKPWähler kämen aus den Reihen der Mittelschi­cht, denen die Wirtschaft­skrise zu schaffen mache, schrieb Kommentato­r Turan. Die Arbeitslos­igkeit liegt bei 14 Prozent, bei jungen Leuten ist sie doppelt so hoch.

Erdogans Regierung erweckt nicht den Eindruck, als wolle sie zu den Werten ihrer Aufbruchsz­eit zurückkehr­en. Laut Berichten der regierungs­nahen Presse arbeitet Ankara an einem Gesetz, das negative Kommentare über die Wirtschaft zur Straftat machen soll.

 ?? FOTO: XINHUA/DPA ?? Eine türkische Nationalfl­agge ragt aus dem Nebel über Istanbul.
FOTO: XINHUA/DPA Eine türkische Nationalfl­agge ragt aus dem Nebel über Istanbul.

Newspapers in German

Newspapers from Germany