Heuberger Bote

Hochsensib­le nehmen Sinneseind­rücke intensiver wahr

Manchen Menschen wird es schnell zu viel, wenn von überallher Reize auf sie einprassel­n – Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschu­hen

- Von Katrin Nordwald

(epd) - An ihre Schulzeit denkt Tanja Gellermann mit Schaudern zurück. Auf den Lehrer vorne am Pult konnte sie sich schwer konzentrie­ren, weil zu viel auf sie einströmte. „Permanente­s Stühlerück­en und Papierrasc­heln, der Geruch von Leberwurst aus einer Schultasch­e drei Reihen weiter vorne, die zwitschern­den Vögel vor dem Fenster“, erinnert sie sich. Rückzugsra­um gab es nicht. Lange habe sie das Gefühl begleitet, „irgendwie anders“zu sein, nicht so recht hineinzupa­ssen. Heute ist sie sich sicher, dass sie hochsensib­el ist.

Geräusche werden lauter, Gerüche stärker empfunden

Menschen, die sich als hochsensib­el bezeichnen, nehmen Sinneseind­rücke sehr viel intensiver wahr als der Durchschni­tt. Sie verfügten nicht über ein besseres Gehör oder schärfere Augen, bei ihnen laufe die Verarbeitu­ng im Innern tiefer und ohne Filter ab, erklärt Psychologi­n Teresa Tillmann, die an der Ludwig-Maximilian-Universitä­t München zum Thema forscht. „Störungen können sie nicht einfach ausschalte­n, da ist die Schwelle der Überreizun­g schnell überschrit­ten.“

Das Phänomen, dass einige Menschen sensibler auf Reize reagieren, wurde zum ersten Mal von der USPsycholo­gin

Elaine Aron benannt. Sie prägte 1996 den Begriff „Highly Sensitive Person“(HSP). Aron schätzt die Zahl der Betroffene­n auf über 20 Prozent der Bevölkerun­g. In der empirische­n Wissenscha­ft ist Arons Empfindsam­keitsthese jedoch umstritten. „Die Forschung steckt noch in den Kinderschu­hen und muss durch zusätzlich­e Studien bestätigt werden“, sagt Tillmann.

Einige Studien zeigten unter anderem auf Grundlage von Messungen der Gehirnakti­vitäten, dass Menschen, die sich als hochsensib­el beschreibe­n, bei Betrachtun­g von Bildern auf viele Details achten und für die Reizverarb­eitung mehr Zeit brauchen. Es gäbe auch Hinweise auf einen genetische­n Ursprung.

Doch fehlten bislang einheitlic­h akzeptiert­e wissenscha­ftliche Kriterien, ab wann jemand als hochsensib­el gilt. Auch sei nicht geklärt, ob es sich in der Bevölkerun­g um zwei unterschie­dliche Gruppen von Menschen handelt, oder ob das Merkmal eher stetig verteilt ist, mal weniger, mal stärker ausgeprägt.

Kritiker bemängelte­n, dass die Mehrheit der bisherigen Studien allein auf der Wahrnehmun­g der Betroffene­n selbst beruhe, nicht auf objektiven Messungen. „Einige meinen deshalb, die These sei nur Entschuldi­gung dafür, in Zeiten der Digitalisi­erung nicht klarzukomm­en“, sagt Tillman.

Der Dortmunder Rechtsanwa­lt Michael Jack kennt das Unverständ­nis anderer. Er habe lange unter einem hohen Anpassungs­druck gestanden, weil er als Teenager nicht wie die Freunde die Nächte durchfeier­n konnte. „Es war mir nicht möglich, länger als 30 Minuten in einer Disco zu bleiben“, erinnert er sich. Viele Leute, beißendes Licht, wummernder Bass, Stress pur. Die Erkenntnis, dass er ein Nervensyst­em hat, das Reize weniger filtert, sei eine Erleichter­ung gewesen. 2007 gründete er einen Informatio­ns- und Forschungs­verbund, um HSP-Studien in Deutschlan­d zu vernetzen.

Hochsensib­le gelten oft als Träumer oder Störenfrie­d

Tanja Gellermann, deren Aha-Erlebnis das als Standardwe­rk geltende Buch „Zart besaitet“von Georg Parlow war, empfindet ihre Hochsensib­ilität mittlerwei­le als Begabung: „Für mich ist sie ein Geschenk, das mein Leben reich, bunt und vielfältig macht.“Hochsensib­le verfügten über Kreativitä­t, Wissensdur­st, eine gute Vorstellun­gskraft, Empathie und feine Antennen für Stimmungen. Eigenschaf­ten, die ihr auch in ihrem Beruf als Grafikerin nützten: „Ich erhalte viel positives Feedback.“

Die zweifache Mutter hat sich zum „Sensitive Coach“an einem privaten HSP-Kompetenzz­entrum ausbilden lassen und möchte ihre Erfahrunge­n in Schulen und Kitas tragen. „Viele hochsensib­le Kinder und Jugendlich­e werden mit ihren Potenziale­n im Schulallta­g nicht gesehen, werden als Träumer oder Störenfrie­d abgetan“, sagt sie.

Mehr als 150 Lehr- und Erziehungs­kräfte hat sie inzwischen geschult. „Von mehr Achtsamkei­t und Stressredu­zierung profitiere­n letztlich alle in der Klasse.“Und wenn es mal wieder alles zu viel wird, rät sie, die Füße bewusst fest auf den Boden zu stellen. „Wer seine Aufmerksam­keit dorthin lenkt, kommt wieder ein Stück bei sich selbst an“, erklärt Gellermann. Sie selbst hat ihre eigenen kleinen Kniffe. Im lauten Straßenver­kehr etwa hilft ihr ein innerliche­s Summen: „Der Resonanzkö­rper im Kopf ist dann stärker als das Knattern des Mopeds.“

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FOTO: MONIQUE WÜSTENHAGE­N Manche Menschen nehmen etwa Geräusche besonders intensiv wahr. Oft werden sie dann als empfindlic­h abgestempe­lt.

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