Hochsensible nehmen Sinneseindrücke intensiver wahr
Manchen Menschen wird es schnell zu viel, wenn von überallher Reize auf sie einprasseln – Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen
(epd) - An ihre Schulzeit denkt Tanja Gellermann mit Schaudern zurück. Auf den Lehrer vorne am Pult konnte sie sich schwer konzentrieren, weil zu viel auf sie einströmte. „Permanentes Stühlerücken und Papierrascheln, der Geruch von Leberwurst aus einer Schultasche drei Reihen weiter vorne, die zwitschernden Vögel vor dem Fenster“, erinnert sie sich. Rückzugsraum gab es nicht. Lange habe sie das Gefühl begleitet, „irgendwie anders“zu sein, nicht so recht hineinzupassen. Heute ist sie sich sicher, dass sie hochsensibel ist.
Geräusche werden lauter, Gerüche stärker empfunden
Menschen, die sich als hochsensibel bezeichnen, nehmen Sinneseindrücke sehr viel intensiver wahr als der Durchschnitt. Sie verfügten nicht über ein besseres Gehör oder schärfere Augen, bei ihnen laufe die Verarbeitung im Innern tiefer und ohne Filter ab, erklärt Psychologin Teresa Tillmann, die an der Ludwig-Maximilian-Universität München zum Thema forscht. „Störungen können sie nicht einfach ausschalten, da ist die Schwelle der Überreizung schnell überschritten.“
Das Phänomen, dass einige Menschen sensibler auf Reize reagieren, wurde zum ersten Mal von der USPsychologin
Elaine Aron benannt. Sie prägte 1996 den Begriff „Highly Sensitive Person“(HSP). Aron schätzt die Zahl der Betroffenen auf über 20 Prozent der Bevölkerung. In der empirischen Wissenschaft ist Arons Empfindsamkeitsthese jedoch umstritten. „Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen und muss durch zusätzliche Studien bestätigt werden“, sagt Tillmann.
Einige Studien zeigten unter anderem auf Grundlage von Messungen der Gehirnaktivitäten, dass Menschen, die sich als hochsensibel beschreiben, bei Betrachtung von Bildern auf viele Details achten und für die Reizverarbeitung mehr Zeit brauchen. Es gäbe auch Hinweise auf einen genetischen Ursprung.
Doch fehlten bislang einheitlich akzeptierte wissenschaftliche Kriterien, ab wann jemand als hochsensibel gilt. Auch sei nicht geklärt, ob es sich in der Bevölkerung um zwei unterschiedliche Gruppen von Menschen handelt, oder ob das Merkmal eher stetig verteilt ist, mal weniger, mal stärker ausgeprägt.
Kritiker bemängelten, dass die Mehrheit der bisherigen Studien allein auf der Wahrnehmung der Betroffenen selbst beruhe, nicht auf objektiven Messungen. „Einige meinen deshalb, die These sei nur Entschuldigung dafür, in Zeiten der Digitalisierung nicht klarzukommen“, sagt Tillman.
Der Dortmunder Rechtsanwalt Michael Jack kennt das Unverständnis anderer. Er habe lange unter einem hohen Anpassungsdruck gestanden, weil er als Teenager nicht wie die Freunde die Nächte durchfeiern konnte. „Es war mir nicht möglich, länger als 30 Minuten in einer Disco zu bleiben“, erinnert er sich. Viele Leute, beißendes Licht, wummernder Bass, Stress pur. Die Erkenntnis, dass er ein Nervensystem hat, das Reize weniger filtert, sei eine Erleichterung gewesen. 2007 gründete er einen Informations- und Forschungsverbund, um HSP-Studien in Deutschland zu vernetzen.
Hochsensible gelten oft als Träumer oder Störenfried
Tanja Gellermann, deren Aha-Erlebnis das als Standardwerk geltende Buch „Zart besaitet“von Georg Parlow war, empfindet ihre Hochsensibilität mittlerweile als Begabung: „Für mich ist sie ein Geschenk, das mein Leben reich, bunt und vielfältig macht.“Hochsensible verfügten über Kreativität, Wissensdurst, eine gute Vorstellungskraft, Empathie und feine Antennen für Stimmungen. Eigenschaften, die ihr auch in ihrem Beruf als Grafikerin nützten: „Ich erhalte viel positives Feedback.“
Die zweifache Mutter hat sich zum „Sensitive Coach“an einem privaten HSP-Kompetenzzentrum ausbilden lassen und möchte ihre Erfahrungen in Schulen und Kitas tragen. „Viele hochsensible Kinder und Jugendliche werden mit ihren Potenzialen im Schulalltag nicht gesehen, werden als Träumer oder Störenfried abgetan“, sagt sie.
Mehr als 150 Lehr- und Erziehungskräfte hat sie inzwischen geschult. „Von mehr Achtsamkeit und Stressreduzierung profitieren letztlich alle in der Klasse.“Und wenn es mal wieder alles zu viel wird, rät sie, die Füße bewusst fest auf den Boden zu stellen. „Wer seine Aufmerksamkeit dorthin lenkt, kommt wieder ein Stück bei sich selbst an“, erklärt Gellermann. Sie selbst hat ihre eigenen kleinen Kniffe. Im lauten Straßenverkehr etwa hilft ihr ein innerliches Summen: „Der Resonanzkörper im Kopf ist dann stärker als das Knattern des Mopeds.“