Gelassenheit statt Hysterie
Jair Bolsonaro ist berüchtigt für seine verqueren Thesen. So wie der brasilianische Präsident den Klimawandel leugnet und den Regenwald weiter abholzen lässt, verharmlost er jetzt die Corona-Krise als medial gesteuerte Hysterie. Damit sind wir – nach Panik in der letzten Woche – bei einem anderen derzeit inflationär gebrauchten Wort. Kaum ein Bericht über die absurden Hamsterkäufe der Deutschen, in dem nicht von hysterischen Reaktionen die Rede ist. Wobei man in der Wissenschaft offiziell gar nicht mehr von Hysterie redet, wenn es um neurotische Persönlichkeitsstörungen geht, also etwa um die Neigung zu Aufgeregtheit und Überspanntheit.
Dieses sprachliche Kehrtwende hat mit unserer emanzipierten Gesellschaft zu tun: In der antiken Medizin galt bekanntlich die Nase als Abflussventil des Gehirns, das Herz als Sitz der Seele, in der Milz wurde die Heiterkeit verortet, in der Galle die Schwermut, in der Leber die Temperamente. Von der Gebärmutter aber,
Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
griechisch hystéra, glaubten die Altvorderen, dass sie – wenn nicht zum Gebären benötigt – im Körper umherwandere und letztlich am Gehirn andocke, was dann zu seelischen Störungen führe, eben zu hysterischem Verhalten. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein waren viele Psychologen folglich der Meinung, nur Frauen könnten hysterisch reagieren. Ein großer Irrtum – unter anderem zu erleben in den Fankurven der Fußballstadien. Die Korrektur war also überfällig.
Jedenfalls sind Überreaktionen das Allerletzte, was wir in diesen turbulenten Tagen der wachsenden Einschränkung brauchen können. Schon wird räsoniert, die Gesellschaft sei wohl mit dem Übermaß an Muße im Sinn von freier Zeit überfordert, die ihr jetzt durch das Schließen von Firmen, Geschäften, Schulen etc. zugewachsen ist. Da kann zum einen der Gedanke an jene helfen, die wie die Ärzteschaft und das Pflegepersonal derzeit weit über ihre Grenzen hinaus belastet sind. Sie alle hätten gerne mehr Muße. Zum anderen nützt ein Blick auf das Wort Muße. Es ist mit messen verwandt und hat durchaus eine aktive Komponente. Muße haben bedeutet unter anderem auch, den Freiraum auszunützen, der einem zugemessen wird. Zum Beispiel durch musische Betätigung – musisch mit nur einem s, wohlgemerkt, weil es dabei um die Musen geht, um die neun antiken Göttinnen der Künste. Was wir allemal nun in hohem Maße brauchen, ist Gelassenheit. Auch dieses Wort lohnt das nähere Hinsehen. Das Verb gelazen stand im Mittelhochdeutschen für sich benehmen, aber auch unterlassen, verlassen. In der Sprache der Mystiker um 1300 bedeutete es sich gottergeben verhalten. Erstrebenswert erschien es jenen christlichen Denkern, die Welt und sich selbst zu gelassen und dafür Gott zu überlassen. Im Lauf der Jahrhunderte verlor der Begriff dann seinen religiösen Hintergrund – was einige bedauern mögen. Heute verstehen wir unter Gelassenheit die Fähigkeit, ruhig, gleichmütig und beherrscht zu reagieren und vor allem in schwierigen Situationen unvoreingenommen Haltung zu bewahren. Kurz: das Gegenteil von nervöser Aufgeregtheit. „Zuversicht – Sieben Wochen ohne Pessimismus“heißt das Motto der gerade laufenden Fastenaktion 2020 der evangelischen Kirche. Geprägt wurde es schon vor einem Jahr, und die Flyer waren längst gedruckt, als die Corona-Krise am fernöstlichen Horizont auftauchte. Der letzte Satz des Vorworts lautet fast schon prophetisch: „Mit Zuversicht kann es gelingen, aus Krisen zu lernen.“Optimismus – ein Gegenentwurf zur Hysterie.
Wenn Sie Anregungen zu Sprachthemen haben, schreiben Sie! Schwäbische Zeitung, Kulturredaktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg