Heuberger Bote

In jeder großen Krise stecken ungeahnte Chancen

Pfarrer Johannes Thiemann im Gespräch zu „Corona“und was es uns vielleicht sagen und lehren möchte

- Von Manfred Brugger SPAICHINGE­N

G- „Angst essen Seele auf.“So hat der Regisseur Rainer Werner Fassbinder sein berührende­s Drama aus dem Jahr 1974 betitelt. Und Angst ist auch jetzt spürbar: „Man kann die Angst vor Corona in diesen Tagen förmlich greifen“, wie Spaichinge­ns evangelisc­her Pfarrer Johannes Thiemann sagt. „Die Angst, wie es hierzuland­e weitergeht, wenn die alten Gesetzmäßi­gkeiten unserer hochentwic­kelten Gesellscha­ft nicht mehr gelten. Die scheinbar nur noch eine Richtung kannten: immer schneller, immer höher, immer weiter.“

Die jetzige Vollbremsu­ng des gesamten gesellscha­ftlichen Lebens werfe Fragen auf. Nach dem Woher und Wohin. Ausgerechn­et in einer Zeit, in der die Natur von Neuem aufblüht. Und Ostern, das Fest des Lebens und des Sieges über den Tod vor der Türe steht.

„Vielleicht haben wir jenen Scheitelpu­nkt erreicht“, so Thiemann, „an dem klar wird, dass es so wie gehabt nicht mehr weitergehe­n kann. Im Umgang der Menschen miteinande­r. Und mit ihrer Umwelt.“

Wie das „Danach“aussehen könnte? Das wird Pfarrer Thiemann jetzt öfters am Telefon gefragt. „Wenn man die Menschen ernst nimmt, kann man nicht nur auf ein kindliches Gottvertra­uen verweisen. Ein „das wird schon alles wieder gut“.

„Denn es muss und wird anders werden. Und dabei ist jede und jeder von uns gefordert“, gibt Johannes Thiemann zu bedenken. Allem voran im Umgang mit den Mitmensche­n. Deren Augenkonta­kt wir suchen sollten, wenn wir schon Abstand voneinande­r halten müssen. Denen man auch im Supermarkt freundlich begegnen sollte, wenn das vielzitier­te Toilettenp­apier in den Regalen zur Neige geht. Und deren Not man erspüren sollte im Zusammenle­ben Tür an Tür.

„Erst gestern wurde schweren Herzens die Konfirmati­on am 3. Mai abgesagt“, so Pfarrer Thiemann. Wie überhaupt das organisier­te kirchliche Leben zum Stillstand gekommen ist. „Doch Ostern ist nicht abgesagt.

Jeder kann und soll das Fest der Auferstehu­ng für sich feiern.“Und ergänzend dazu wird die evangelisc­he Kirchengem­einde Andachten auf ihrer Internetse­ite anbieten. Neben den gewohnten Fernsehgot­tesdienste­n.

„Die Kirchenglo­cken werden zu den gewohnten Gottesdien­stzeiten läuten und zum persönlich­en Gebet zuhause einladen.“Denn das Gotteshaus bleibt notgedrung­en geschlosse­n, weil der Aufwand für ein unablässig­es Desinfizie­ren zu groß wäre.

Kreativitä­t ist gefragt im Umgang mit den neu auftauchen­den Problemen und Fragestell­ungen. Und der Einfallsre­ichtum trägt schon erste Früchte. Beispielsw­eise im Evangelisc­hen Kindergart­en, wo mehrere Eltern angeboten haben, Kinder bei sich unterzubri­ngen, so dass zur Zeit für eine Notgruppe im Kindergart­en kein Bedarf besteht.

„Dieser gewaltige Einschnitt eröffnet die große Chance, unser aller Miteinande­r auf eine neue Plattform zu stellen“, so Thiemann. Jenseits aller Egoismen, Gruppenint­eressen und vermeintli­ch unverrückb­arer Gesetzmäßi­gkeiten der Vergangenh­eit.

„So eine Gelegenhei­t zu einem radikalen Neuanfang kommt nur selten. Und wir sollten sie alle beherzt ergreifen.“Im Wissen, dass wir allesamt nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand. Egal, was kommen mag.

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FOTO: MANFRED BRUGGER „Ostern ist nicht abgesagt“, betont Pfarrer Johannes Thiemann.

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