Auf Abstand
In der Krise hat sich in Berlin das Verhältnis von Politikern und Berichterstattern radikal verändert
- Die 15 fremden Erwachsenen, die aus Mamas Computer in ihr Wohnzimmer schauen und „Hallo“sagen, interessieren das sechsjährige Mädchen nur mäßig. Es will ein Nutellabrot und rutscht unruhig auf dem Schoß der Mutter herum. Der Hunger ist dem Kind näher als die Größe des Bundestags, über den die Erwachsenen bis gerade geredet haben.
In normalen Zeiten wären die 16 Erwachsenen, Politiker und Journalisten, in einem Besprechungsraum im Bundestag zu einem Hintergrundgespräch zusammengekommen. Die Politiker hätten auf Einladung einer Fraktion bei Kaffee und Brötchen erzählt, wie die Reform des Wahlrechts vorankommt, wer aus ihrer Sicht mit welchen Motiven die Reform treibt oder blockiert. Die Journalisten hätten nachgefragt, nachgebohrt, mitdiskutiert und versucht, über Mimik und Körpersprache der Politiker und Rückfragen bei anderen Politikern herauszufinden, ob alles auch ehrlich gemeint ist. In normalen Zeiten gibt es im politischen Berlin zahllose solche „Hintergrund“genannte Runden. Alle Ministerien, Parteien und Fraktionen sowie viele Verbände machen welche. Dazu kommen Treffen und kurze informelle Gespräche am Rande von Pressekonferenzen, auf Fluren, in Restaurants und Kneipen, auf Abendveranstaltungen.
In Normalzeiten entsteht aus dieser Nähe von Politik und Journalismus ein politisches Grundrauschen, aus dem sich die Politikberichterstattung aus der Hauptstadt speist. Und die auch oft genug aufgeregt um Themen kreist, die außerhalb nur wenige interessieren. Es ist der Stoff für die oft kritisierte „Berliner Blase“.
Corona hat diese in sich zusammenfallen lassen. Die Terminkalender in den Redaktionen sind leer geräumt, selbst feste Größen wie die Stallwächterparty der Baden-Württembergischen Landesvertretung sind gestrichen. Und es gibt durchaus Politiker und Journalisten in Berlin, die diese Entdeckung der Langsamkeit nach den turbulenten letzten Jahren genießen.
Dabei ist eigentlich Tempo angesagt: Die Ministerien produzieren auf Hochtouren neue Gesetze und Verordnungen, mit denen Milliarden verschoben werden. Zeit, diese durchzuarbeiten und kritisch zu hinterfragen, haben Opposition und Journalisten kaum noch. Sorgfalt vor Schnelligkeit? Von wegen.
Die Korrespondenten hocken unterdessen statt im Café zu Hause vor dem Computer, und versuchen, auf dem Laufenden zu bleiben. Und auch wenn das Nutellabrot-Kind eine willkommene Abwechslung im zuweil drögen und unpersönlichen Politalltag ist – die wenigen verbliebenen Telefon- und Videokonferenzen erreichen nicht die Tiefe des direkten Dialogs, selbst wenn die Leitungen stabil bleiben.
Auch die Themen haben sich geändert: In Krisenzeiten konzentriert sich die Berichterstattung auf unmittelbares Regierungshandeln. In den ausgedünnten Pressekonferenzen und im Fernsehen gehören die Bühne und die Bilder der Kanzlerin und ihren Ministern. Die Opposition findet seltener statt – und hat meist auch wenig zu monieren. Das schlägt sich auch in Umfragen nieder: Seit Wochen klettern CDU und CSU in den Meinungsumfragen: Im ZDF-Politbarometer
steht sie bei 33 Prozent, das sind sieben Prozentpunkte mehr als in der Vorumfrage. Auch andere Institute sehen die Union stabil über 30 Prozent, Forsa misst sogar 36 Prozent. Auch die SPD kann in mehreren Umfragen etwas gewinnen, auch wenn sie weiter unter 20 Prozent bleibt. Trost für die Sozialdemokraten: Finanzminister Olaf Scholz steigt in der Wählergunst. Für Grüne, AfD, Linke und FDP geht es hingegen – mit Ausnahme einer Umfrage des Insa-Instituts – bergab: Die Grünen fallen bei Forsa mit 17 Prozent klar unter die 20-Prozent-Marke, die AfD wird mit neun Prozent einstellig, ebenso wie die Linkspartei mit ihren acht Prozent. Und die FDP muss mit sechs Zählern um den Wiedereinzug ins Parlament bangen.
In den meisten Umfragen hat die einst ungeliebte Große Koalition eine Mehrheit. Und ihre Kritiker sind leise geworden: Dass die SPD das Bündnis zwei Jahre lang immer wieder infrage gestellt hat? Vergessen. Auch andere Themen, die die Politik lange dominierten, sind wie weggewischt. Dass die CDU nur eine Chefin auf Abruf hat? Nicht so wichtig. Und dass CSU-Chef Markus Söder die Ministerriege in Berlin durchflöhen wollte? Verschiebbar.
Markiert Corona also das Ende der Berliner Blase? Der Züricher Politikwissenschaftler Lukas Haffert, der sich ausführlich mit dem Aufstieg Berlins zur dominierenden Metropole des Landes beschäftigt hat, glaubt das nicht. Er geht von einem „zeitlich begrenzten Phänomen“aus, erklärt Haffert der „Schwäbischen Zeitung“.
Das kleine Mädchen stört diese Einschränkung nicht. Es freut sich, dass Mama daheim und die Videokonferenz schnell vorbei ist. Und sie schnell ihr Nutellabrot bekommt.