EU vertagt sich
Scholz bei Corona-Paket trotz Streit zuversichtlich
(dpa) - Trotz einer dramatischen Nachtsitzung haben die EUStaaten vorerst kein gemeinsames Corona-Rettungspaket zustande gebracht. Eurogruppen-Chef Mario Centeno vertagte die Sitzung der Finanzminister nach 16 Stunden auf diesen Donnerstag. Ein Kompromiss „sei noch nicht geschafft“, schrieb Centeno bei Twitter. Es ging um ein Sicherheitsnetz im Umfang von rund 500 Milliarden Euro mit drei Elementen, um die Folgen der schweren Corona-Wirtschaftskrise gemeinsam zu bewältigen.
Finanzminister Olaf Scholz erklärte danach mit seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire: „In dieser schweren Stunde muss Europa eng zusammenstehen.“Später sagte der SPD-Politiker in Berlin, er sei trotz der schwierigen Verhandlungen zuversichtlich. „Ich glaube, das kann man schaffen.“Es habe nur in einem Punkt keine Einigung gegeben.
- Das europäische Geschäft besteht derzeit darin, stundenlang auf Videobildschirme zu starren. Finanzminister Olaf Scholz verhandelte auf diese Weise von Dienstagnachmittag bis Mittwochmorgen 16 lange Stunden mit seinen europäischen Amtskollegen. Gemeinsam suchten sie nach einer fiskalischen Antwort auf das Coronadrama. Obwohl es auch im dritten Anlauf keine Einigung gab, trat der Minister danach erstaunlich entspannt und vergnügt vor die Mikrofone.
Aus seiner Sicht hat sich die lange Abfolge von Zweiergesprächen, Sitzungsunterbrechungen und Debatten in großer Runde gelohnt, obwohl für eine endgültige Einigung eine weitere Videokonferenz am Donnerstagnachmittag angesetzt wurde. Wie es aussieht, konnte Deutschland seine Isolation in der leidigen Eurobondfrage überwinden, Frankreich auf seine Seite ziehen und so erreichen, dass nun Italien und die Niederlande mit ihren jeweiligen Extrempositionen als die Spielverderber dastehen. Deutschland hingegen, so Scholz, ziehe mit Spanien, Portugal und Frankreich an einem Strang.
All dies signalisierte er am Morgen nach der Sitzung der Eurofinanzminister, ohne das in Deutschland so ungeliebte Wort „Gemeinschaftsanleihen“überhaupt in den Mund zu nehmen. Als akute Krisenhilfe soll es drei Finanzinstrumente geben: Kredite für kleine und mittlere Betriebe von der Europäischen Investitionsbank EIB von bis zu 200 Milliarden Euro, Kredite für notleidende Staaten aus dem Krisenreaktionsmechanismus ESM in gleicher Höhe und ein von der EU finanziertes Kurzarbeitergeld SURE von bis zu 100 Milliarden Euro.
Obwohl sich alle einig sind, dass dieses Füllhorn geöffnet und von finanziell solide dastehenden Staaten wie Deutschland finanziert werden soll, wurde dennoch die ganze Nacht gestritten – über ein auf den ersten Blick unbedeutendes Detail, in dem sich aber der fundamentale Mentalitätsunterschied zwischen Nord und Süd sehr deutlich zeigt. Die Niederlande bestehen darauf, dass der ESM nur dann Kredite bereitstellen darf, wenn sich die profitierenden Länder zu grundlegenden Reformen ihrer Rentensysteme, des Arbeitsrechts und der Steuergesetzgebung verpflichten. Das soll von Brüssel kontrolliert werden.
Italien sieht dadurch seine politische Autonomie bedroht und fürchtet, dass die aus der Finanzkrise berüchtigte Troika bald wieder vor den Toren Roms stehen könnte. Außerdem besteht die italienische Regierung weiterhin darauf, dass die zu erwartende Staatsschuldenkrise nur durch Gemeinschaftsanleihen, also Eurobonds, bewältigt werden kann. Im Windschatten des Zuchtmeisters Holland kann Olaf Scholz eine zugewandtere, solidarischer wirkende Mittelposition einnehmen, ohne einen Dammbruch befürchten zu müssen. Die Entscheidungen können nämlich nur einstimmig getroffen werden. Natürlich hat auch Italien ein Vetorecht. Da dann aber gar kein
Geld fließen würde, sitzt die Regierung Conte am kürzeren Hebel.
Bezahlt hat Deutschland die Rückkehr ins gemäßigte Mittelfeld mit der Zustimmung zum von Frankreich ins Spiel gebrachten „Wiederaufbaufonds“, der nach der Krise milliardenschwer aufgelegt werden soll, um die Wirtschaft in der EU wieder anzukurbeln. Frankreich will diesen Fonds aus Kreditgarantien der Mitgliedsstaaten mit extrem langen Laufzeiten speisen, was die Eurobonds unter anderem Namen wieder auferstehen ließe. Olaf Scholz hingegen möchte aus dem Fonds einen Haushaltstitel im künftigen mehrjährigen Finanzrahmen MFF machen. So hat es auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für ihren „Marshallplan“vorgeschlagen.
Statt für milliardenschwere Kredite schwacher EU-Staaten zu bürgen, würde Deutschland etwas mehr in den EU-Haushalt einzahlen und auf diesem Weg Investitionen in Italien, Portugal oder Frankreich subventionieren. Das wäre für die Bundesregierung die deutlich billigere Lösung mit weniger Unwägbarkeiten in der Zukunft. Die Empfängerländer wissen aber, dass sie damit deutlich weniger finanziellen Spielraum hätten, denn das Geld würde teilweise aus anderen Töpfen wie den Strukturhilfen in den Corona-Fonds umgeleitet.
Dieser Streit wird in der zweiten Jahreshälfte unter deutscher Ratspräsidentschaft, wenn der neue Haushalt geschnürt wird, mit aller Härte ausgetragen werden. Für die Bundesregierung ist aber zunächst entscheidend, dass sie sich in der Krise als enger Partner Frankreichs darstellen kann. „Gemeinsam mit Bruno Le Maire (dem französischen Finanzminister, Anm. d. Red.) rufe ich deshalb alle Euroländer auf, sich einer Lösung dieser schwierigen Finanzfragen nicht zu verweigern und einen guten Kompromiss zu ermöglichen – für alle Bürgerinnen und Bürger“, twitterte Scholz am Morgen nach dem Videomarathon.