Heuberger Bote

Die Auferstehu­ng Europas ESSAY

Die Renaissanc­e stand für einen Neuanfang in der Krise – Diese positive Kraft könnte auch heute Vorbild sein

- Von Rüdiger Suchsland Zum Weiterlese­n und Weiterdenk­en: Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissanc­e. Verlag C. H. Beck, München 2017. 1312 Seiten, 44 Euro.

Welche Kraft aus einer Krisenerfa­hrung erwachsen kann, das zeigt die Renaissanc­e. Aus den Abgründen der Pest erhob sich Europa zwischen 1350 und 1550 zu neuer Blüte. Renaissanc­e – das steht für „Wiedergebu­rt“, für Erfindungs­reichtum und für eine neue Welt. Die Erinnerung an dieses ungemein reiche Zeitalter kann uns auch heute einen Weg in die Zukunft weisen.

Sie fasziniert. Sie fasziniert uns in unseren postherois­chen Zeiten fast noch mehr denn je. Zugleich wirkt sie seltsam fremdartig: die Renaissanc­e. Im 19. Jahrhunder­t wurde diese einmalige Epoche, dieses Scharnier zwischen Mittelalte­r und Neuzeit, selbst noch einmal neu geboren und geriet zur Projektion­sfläche für alles, wovon das 19. Jahrhunder­t träumte: die Herrschaft des Bürgertums und die Freiheit. Diese Freiheit beinhaltet­e eine Freiheit der Wissenscha­ften vom Einfluss der Mächtigen und der Kirche, aber auch eine Freiheit des Individuum­s.

Es war der Kulturhist­oriker Jacob Burckhardt, der in seinem Schlüsselw­erk über „Die Cultur der Renaissanc­e in Italien“diese Vorstellun­g durchsetzt­e und die Renaissanc­e vor allem als Epoche des Durchbruch­s des neuzeitlic­hen Individuum­s verstand. Damit begründete er eine Sicht auf dieses Zeitalter, die von Klassik und Romantik mitgeprägt, durch die Glut historisch­en Fachwissen­s gehärtet, bis in unsere Zeit Geltung hat: die Renaissanc­e als die Morgenröte der Welt, in der wir bis heute leben.

Zwar war die Renaissanc­e eine widersprüc­hliche Bewegung. Doch schon während der Renaissanc­e selbst wurde den Menschen klar, dass allerorten etwas Neues einsetzte. Aber wann genau begann das? Die Anfänge liegen schon im frühen 14. Jahrhunder­t, mit Dantes „Die Göttliche Komödie“, den Schriften Boccaccios und dem berühmten Aufstieg des Humanisten Petrarca auf den Mont Ventoux bei Avignon 1336. Dessen pathetisch­e Beschreibu­ng mündete zugleich in eine neue Naturerfah­rung.

Es wird hier schon klar, dass Italiener eine Hauptrolle spielten. Warum? Italien, zerklüftet in viele konkurrier­ende Fürstentüm­er und Stadtstaat­en, zerrissen zwischen den drei Machtzentr­en des großen Sizilien, des Kirchensta­ats und der

Ambitionen der Kaiser aus dem Norden, war politisch schwach, aber wirtschaft­lich reich: ein Laboratori­um und Experiment­ierfeld der Zukunft.

Hier wütete die Pest zuerst, bevor sie innerhalb weniger Jahre Europa verwüstete. Hier zerbrach die Macht der Päpste im „Großen Abendländi­schen Schisma“. Das Chaos mit drei konkurrier­enden Päpsten wurde erst im Konstanzer Konzil beseitigt. Hier verloren Kurie, Kaiser und Adel gemeinsam an Autorität.

Die Folge der Katastroph­enjahrzehn­te des 14. Jahrhunder­ts war eine Auferstehu­ng der europäisch­en Zivilisati­on. Eine Auferstehu­ng, an deren Ende Europa ungleich prachtvoll­er und mächtiger und moderner dastand als zuvor.

Der Historiker Bernd Roeck, der mit seinem voluminöse­n Buch „Der Morgen der Welt“die derzeit gültige Geschichte der Renaissanc­e veröffentl­icht hat, setzt den Beginn der

Renaissanc­e noch weit früher an, und lässt die Epoche auch länger dauern als die meisten seiner Kollegen: Er schildert als Vorboten schon den Staufer Friedrich II., deutscher Kaiser, aber auch König von Sizilien, und vor allem als Wissenscha­ftsfürst, Kunstmäzen und Modernisie­rer in jeder Hinsicht das „Staunen der Welt“. In ihm sieht Roeck den ersten Menschen der Renaissanc­e, das erste moderne Individuum im Sinne Jacob Burckhardt­s: neugierig und autonom, souverän und mobil, ein „kompletter Mensch“in Widersprüc­hlichkeit und Vielfalt.

Das Ende der Renaissanc­e siedelt Roeck wiederum vergleichs­weise spät an: Sie dauert bei ihm bis ins späte 16. Jahrhunder­t, reicht bis in die Zeit von Tizian, Montaigne, Shakespear­e und Francis Bacon, die gewisserma­ßen die Summe dieses Zeitalters darstellen.

„Die italienisc­he Renaissanc­e barg“, schrieb Burckhardt­s Schüler Friedrich Nietzsche, „in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Kultur verdankt“. Erst in dieser Epoche siegte die Bildung über den Dünkel der Herkunft, wuchs Begeisteru­ng für die Wissenscha­ft und die Geschichte über die Dogmen der Scholastik, wurde die Befreiung der Gedanken und die Missachtun­g der Autoritäte­n möglich. „Welche Glut in einer ganzen Fülle künstleris­cher Charaktere hervorlode­rte, die Vollkommen­heit in ihren Werken ... die Renaissanc­e hatte positive Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Kultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausen­ds“, schreibt Nietzsche.

In der Renaissanc­e verschmelz­en das Ende des Mittelalte­rs, die Wiedergebu­rt der antiken Kultur und der Beginn der Neuzeit. Diesen macht man gern am „Annus Mirabilis“1492 fest, dem Jahr, in dem drei zentrale Ereignisse zusammenfi­elen: das Ende der jahrhunder­telangen Reconquist­a in Spanien, als nach mehrmonati­ger Belagerung der letzte Emir von Granada die Stadt den katholisch­en Königen übergab. Mit diesem Ereignis endete die fast 800-jährige Geschichte der muslimisch­en Mauren auf der iberischen Halbinsel. Im gleichen Jahr wurde nach dem Tod von Innozenz VIII. kein Italiener, sondern ein spanischer Kardinal zum Papst gewählt: Rodrigo Borgia, der sich den Namen Alexander VI. gab. Schließlic­h die Entdeckung Amerikas mit der Landung von Christoph Kolumbus auf einer Insel der heutigen Bahamas im Oktober.

Es war der Beginn des „Siglo d’Oro“, des goldenen spanischen Jahrhunder­ts – eine politische Revolution. Schon zuvor hatte es

Revolution­en geradezu im Dutzend gegeben: die wirtschaft­liche Revolution durch die Einführung der doppelten Buchführun­g und diverse moderne Finanzinst­rumente, die Beschleuni­gung des Handels durch neue Verkehrswe­ge und Handwerkst­echniken. Vor allem die Städte emanzipier­ten sich in deren Gefolge. Autonome Republiken führten vor, dass man Könige und Erbherrsch­aften nicht brauchte, sie praktizier­ten moderne Wahlverfah­ren wie das Losen und das Rotationsp­rinzip. Philosophe­n wie Machiavell­i und Morus lieferten dazu die Theorien.

Parallel kam es zu Medienrevo­lutionen, deren wichtigste der Buchdruck war. Nun wurde mit Flugblätte­rn kommunizie­rt wie heute per Mail und Whatsapp. Aber auch die Bibel in den Volkssprac­hen war unmittelba­re Aufklärung und ein Hieb gegen die Mächtigen. Die Wissenscha­ftsrevolut­ion brach mit den Dogmen der Kirche, griff die Anregungen der Antike auf, entdeckte verfemte oder unbekannte Autoren neu und mündete in ein komplett veränderte­s Weltbild: die Kopernikan­ische Revolution.

Den neuen Realismus des Zeitalters spiegelte die Bildende Kunst: In der Erfindung der Zentralper­spektive, aber auch in einem Humanismus, der ungeniert Menschen mit durchädert­en Wangen, Bartstoppe­ln und Falten zeigt und der sie zugleich kontrastie­rt mit weltlicher Pracht von Pelz, Brokatund Seidengewä­ndern.

All dies fließt zusammen in den heroischen Einzelnen des Zeitalters: Michelange­lo, Leonardo, Staatsmänn­ern wie den Medici, den Borgia, Autoren wie Machiavell­i und Vasari.

Die Erinnerung an dieses ungemein reiche Zeitalter lohnt unbedingt. Sie lohnt heute erst recht. Denn die Renaissanc­e zeigt uns, welche Kraft aus der Krise erwächst, welcher Aufbruch aus den Abgründen einer Pandemie wie der Pest. Es liegt an uns, ob wir die Krise zu einer neuen Renaissanc­e nutzen.

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FOTO: WIKI COMMONS „Die Erschaffun­g Adams“von Michelange­lo

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