Heuberger Bote

Er will Stuttgart gerne neu denken

Marian Schreiers Kandidatur für die OB-Wahl in der Landeshaup­tstadt provoziert Streit in der SPD – Der 30-Jährige will weitermach­en, obwohl ihm der Parteiauss­chluss droht

- Von Ludger Möllers, Katja Korf und Agenturen

STUTTGART/TENGEN - In der Metzgerei mit dem schönen Namen „Zum Frieden“nicken die Verkäuferi­nnen anerkennen­d: Hier, in Tengen im Landkreis Konstanz an der Schweizer Grenze, leistet Bürgermeis­ter Marian Schreier offensicht­lich gute Arbeit. Viel erzählen wollen die beiden Frauen nicht, ihr Mundschutz in Corona-Zeiten lässt das nicht zu. Aber es wird deutlich: Der 30-jährige Schultes, ein Sozialdemo­krat, hat sich in den ersten fünf Jahren seiner Amtszeit Respekt und Anerkennun­g erworben. Vor allem haben die Bürger des 4600Seelen-Städtchens seit 2015 verstärkt die Möglichkei­t, sich an Entscheidu­ngsprozess­en zu beteiligen. Dass Schreier sich jetzt in Stuttgart bewirbt und Nachfolger des dortigen grünen Oberbürger­meisters Fritz Kuhn, der nicht wieder antritt, werden will, wollen die Verkäuferi­nnen nicht wirklich kommentier­en. Da aber die SPD-Kandidatin bei der vergangene­n Oberbürger­meisterwah­l in der Landeshaup­tstadt chancenfre­i agierte und Schreier keinen Rückhalt in seiner Partei hat, rechnen die Tengener damit, dass er ihnen erhalten bleibt.

Die Stuttgarte­r OB-Wahl ist im November geplant, nur wenige Monate vor der baden-württember­gischen Landtagswa­hl, die im März 2021 stattfinde­n soll. Für die CDU geht der Oberbürger­meister von Backnang, Frank Nopper, ins Rennen. Für die Grünen tritt die ehrenamtli­che Bezirksvor­steherin von Stuttgart-Mitte, Veronika Kienzle, an. Neben Schreier hat sich der Fraktionsc­hef der SPD im Stuttgarte­r Gemeindera­t, Martin Körner, beworben, er ist offizielle­r Kandidat der Sozialdemo­kraten. Auch ihm werden allenfalls Außenseite­rchancen eingeräumt.

Vom Besprechun­gszimmer im Rathaus der kleinen Gemeinde kann Marian Schreier auf seine Wohnung blicken, wahrschein­lich ist er bundesweit der Bürgermeis­ter mit dem kürzesten Weg vom Wohnsitz zum Arbeitsort: 25 Meter. Und offensicht­lich mag er es auch sonst schnörkell­os, denn zu Beginn seiner Amtszeit vor fünf Jahren fragte er die Tengener nach ihren Wünschen. Ungewohnt war dies für die Menschen in Tengen, denen Schreiers Vorgänger im Amt 42 Jahre lang recht genau vorgegeben hatte, wie zu verfahren war: „Ich will Stadt neu denken“, beschreibt Schreier sein Vorgehen. Dabei darf Stadt schon bald und gerne ein größeres Dorf als Tengen sein.

„Wir haben uns gemeinsam gefragt: Wo steht Tengen heute? Wo soll Tengen 2030 stehen?“Nach einer Haushaltsu­mfrage und mehreren Beteiligun­gsveransta­ltungen entstand eine Liste mit den wichtigste­n Projekten, die als Richtschnu­r dient. Das wichtigste Vorhaben: „Wir bauen ein Ärztehaus, um die hausärztli­che Versorgung sicherzust­ellen“, sagt Schreier, „als Investor tritt eine eigens gegründete Genossensc­haft mit 400 Mitglieder­n auf, die fast alle aus Tengen kommen.“Die bestehende Gemeinscha­ftspraxis und der Zahnarzt können damit gehalten werden: „Das ist ein Beispiel, wie gesellscha­ftliche Akteure im Ort ihre eigene Zukunft in die Hand nehmen und selbst gestalten können.“Für ein anderes Projekt, einen geplanten Windpark im Ortsteil Watterding­en, entschiede­n sich die Tengener in einem Bürgerents­cheid mit einer Zweidritte­lmehrheit: „Dort soll künftig Strom für 30 000 Personen produziert werden.“

Dass Schreier auch harte und unpopuläre Maßnahmen umsetzen kann, musste er bei der Schließung des gemeindeei­genen Altenheims beweisen: „Das Haus arbeitete defizitär“, erinnert er sich, „hätten wir es auch nur ein halbes Jahr weiterbetr­ieben, hätte dies auf absehbare Zeit der Gemeinde die finanziell­e Eigenständ­igkeit genommen.“Die Proteste und Tränen der

Bewohner, der Angehörige­n und der Mitarbeite­r des Hauses musste Schreier aushalten: „Es war leider alternativ­los.“

Doch warum geht ein junger Mann, studierter Verwaltung­swissensch­aftler aus gutem Stuttgarte­r Hause, der Vater war lange Musikprofe­ssor, ausgerechn­et nach Tengen? Warum tut sich ein hoffnungsv­oller Sozialdemo­krat, der auch schon beim damaligen SPDVorsitz­enden Peer Steinbrück als Redenschre­iber tätig war, den mäßig bezahlten Job als Bürgermeis­ter in einem als verschlafe­n verschriee­nen Nest zwischen Schwarzwal­d und der Schweiz an? Schreier hätte sicher in einem der zahlreiche­n Berliner Think Tanks als Politikber­ater tätig werden können, um dann bei passender Gelegenhei­t nahtlos ein Landtags- oder Bundestags­mandat anzustrebe­n. „Ich mag diese Form der unmittelba­ren Politikges­taltung in einer Kommune sehr“, begründet er, „als Abgeordnet­er im Landtag oder im Bundestag ist man spezialisi­ert, als Bürgermeis­ter hat man es mit der ganzen Bandbreite des Lebens zu tun.“In Tengen beeindruck­te ihn das Engagement der 300 Ehrenamtle­r: „Bürgerscha­ftliches Engagement, das wir brauchen.“Darum habe er sich nach einem ersten Besuch in Tengen im Oktober 2014 dazu entschiede­n, dort anzutreten: „Drei Wochen vor der Wahl wurde ich 25 Jahre alt und hatte damit das erforderli­che Mindestalt­er.“Ein Mitbewerbe­r blieb chancenlos.

Und nun die Kandidatur in Stuttgart. Schreier, der die ersten 19 Lebensjahr­e in Stuttgart gelebt hat, nennt zwei Gründe: „Ich habe eine enge Verbindung nach Stuttgart, meine Eltern und meine Freunde leben dort.“Und: „Ich will der Stadt ein Angebot machen, wie wir gemeinsam ein neues Bild von Stuttgart entwerfen können – und wie wir das Zusammenle­ben so organisier­en, dass die Stadt auch die Chancen des 21. Jahrhunder­ts zum Vorteil aller Bürgerinne­n und Bürger nutzen kann. Wenn wir Herausford­erungen wie den Wohnungsba­u oder den Klimawande­l wirklich angehen wollen, dann müssen wir Stadt neu denken.“

Damit ist der 30-Jährige nicht alleine: Einer von Schreiers Unterstütz­ern ist Tim Guldimann. Der ehemalige Schweizer Diplomat war unter anderem von 2010 bis 2015 Botschafte­r der Eidgenosse­n in Berlin. Danach saß der Sozialdemo­krat bis

2018 im Schweizer Nationalra­t. Heute engagiert sich der 69-Jährige, der mit seiner Familie in Berlin lebt, zum Beispiel für die Operation Libero. 2014 gegründet versteht sie sich als Sammelbeck­en für liberale, weltoffene Bürger, die mit den etablierte­n Parteien fremdeln. Sie entstand als Reaktion auf die Schweizer Volksiniti­ative „Gegen Masseneinw­anderung“. Initiiert von der rechtspopu­listischen SVP stimmte ihr die Mehrheit der Wähler zu.

„Wir brauchen eine ganz andere Art von Politik“, erklärt Guldimann, warum er seitdem die Operation Libero unterstütz­t und jetzt dem jungen OB-Kandidaten zur Seite steht. Nicht „die Alten“wie er seien maßgeblich, sondern junge Menschen wie Schreier und die Gründer der Operation Libero. Ihre Sicht auf die Welt, die Art, wie sie das Internet nutzten, wie sie kommunizie­rten – dafür fehle den Parteien das Verständni­s. Zu den Menschen, raus aus den Besprechun­gsräumen und Konferenzs­älen, so seine Forderung.

Mit Marian Schreier sitzt Guldimann deshalb an einem Abend in einer Stuttgarte­r Bar. Eng ist es, rund 20 Zuhörer sind zum Workshop zur Erarbeitun­g von inhaltlich­en Positionen gekommen – damit ist die kleine Kneipe bereits voll. Es sind überwiegen­d Ältere, nur einige sind Schreiers Generation. Es geht darum, wie Stuttgart internatio­naler werden kann.

Guldimann, der weltläufig­e Diplomat, betont immer wieder die Potenziale jener Menschen, die aus dem Ausland für einen Job etwa bei den großen Autobauern in die Landeshaup­tstadt kommen. Und wundert sich, wie wenig die schwäbisch­e Metropole daraus und aus sich macht. Als Wirtschaft­sstandort attraktiv sein heiße auch, mit den reichlich vorhandene­n Pfunden wie dem Kulturange­bot zu wuchern und nicht nur als Feinstaub- und Bahnhofsch­aos-Hauptstadt wahrgenomm­en zu werden.

Eine Steilvorla­ge für Schreier, der vor allem den schlechten Gesamteind­ruck der Landeshaup­tstadt aufbessern will: „Das Image Stuttgarts wird doch derzeit von Staus und der Baustelle des Großprojek­ts Stuttgart 21 bestimmt, das will ich ändern.“Ihm schwebt ein positives Gesamtbild vor: „Wir müssen diese Zeit des Übergangs nutzen und Mobilität neu denken, Wohnungsba­u für alle bezahlbar gestalten und die Transforma­tion des Automobils vorantreib­en.“Die Kulturland­schaft von der Hochkultur mit dem Theater und der Oper bis zu den trendigen Clubs werde zu wenig wahrgenomm­en, „außerdem ist Stuttgart eine Sportstadt.“

Am Ende des Abends ziehen Guldimann und Schreier vor der Videokamer­a ein Fazit. Die Diskussion war lebhaft, wenn auch oft wenig konkret. Und, da ist sich Politprofi Guldimann dann doch sicher – auf Dauer braucht Schreier mehr Publikum als 20 Zuhörer. Eher 250 Besucher, wie bei der Auftaktver­anstaltung im Januar.

Aus seiner Partei, der SPD, wird Schreier diesen Rückenwind nicht bekommen. Im Gegenteil: Denn die Stuttgarte­r Oberbürger­meisterwah­l sorgt innerhalb der baden-württember­gischen SPD für Zoff. Weil Schreier ohne Unterstütz­ung seiner Partei antreten und damit dem offizielle­n SPD-Kandidaten Martin Körner Konkurrenz machen will, droht ihm der Ausschluss aus der Partei. Der SPD-Landesvors­tand hat ein entspreche­ndes Verfahren eingeleite­t. Wie Generalsek­retär Binder erklärt, hat Schreier seine Rechte als Parteimitg­lied verloren. Somit muss er zum Beispiel auch seine Mitgliedsc­haft im Landesvors­tand ruhen lassen. Wann die Landesschi­edskommiss­ion über den Parteiauss­chluss entscheide­t, ist offen – die SPD geht aber davon aus, dass das bis zum Sommer sein wird. Nimmt Schreier seine Kandidatur doch noch zurück, könnte das Verfahren gegen ihn als erledigt angesehen werden.

Nach Binders Worten blieb dem Landesvors­tand keine andere Wahl, als Maßnahmen gegen Schreier einzuleite­n. Die Parteistat­uten sähen dies vor – einen Ermessenss­pielraum gebe es hier nicht. Schreier sei ein geschätzte­r Nachwuchsp­olitiker, und die SPD habe immer gesagt, sie wolle jungen Nachwuchs voranbring­en. Seine „unsolidari­sche Kandidatur“lasse der SPD aber keine Wahl. „Er wusste, dass die SPD einen Kandidaten nominiert“, erklärt Binder, er sei sogar eingeladen gewesen, sich an der Auswahl zu beteiligen. „Er hat sich allerdings diesem Nominierun­gsprozess verweigert.“Schreier entgegnet, seine Kandidatur sei bereits im Dezember von der Stuttgarte­r SPD abgelehnt worden, bevor er selbst überhaupt Gelegenhei­t gehabt habe, sich vorzustell­en.

Die SPD im Kreis Konstanz unterstütz­t Schreier. „Das Parteiordn­ungsverfah­ren gegen Marian Schreier ist eine schädliche und gefährlich­e Eskalation in einem überflüssi­gen Streit“, teilt Kreischef Tobias Volz mit. „Oberbürger­meisterwah­len sind Persönlich­keitswahle­n. Auf den Stimmzette­ln stehen Namen, keine Kürzel von Parteien.“Daher sei es grundfalsc­h, einen Bewerber mit der Drohung des Parteiauss­chlusses von der OB-Kandidatur abzuhalten. Schreier habe viele Freunde und Anhänger. „Wir alle sind besorgt, dass der Landesverb­and einen jungen Hoffnungst­räger und mit ihm auch viele weitere vertreibt.“

Schreier teilt mit, es liege auf der Hand, dass sich die Partei mit der Diskussion über einen Ausschluss keinen Gefallen tue. „Ich möchte lieber über die Zukunft der Stadt Stuttgart diskutiere­n.“Der 30-Jährige bekräftigt, mit seinem Wahlkampf fortfahren zu wollen.

Voraussich­tlich im Mai wolle er mit dem Crowdfundi­ng, also dem Kapitalsam­meln via Internet, beginnen, um seine Kampagne zu finanziere­n. Neben dem Crowdfundi­ng und einem Eigenantei­l setzt Schreier auf Spenden. Er kalkuliert mit 200 000 Euro und rechnet vor: „Sebastian Turner hat 2012 nach Medienberi­chten 400 000 Euro ausgegeben und verloren, Fritz Kuhn hat es mit einem Budget von knapp der Hälfte ins Amt geschafft.“Schreiers Fazit: „Man gewinnt nicht übers Geld!“

„Drei Wochen vor der Wahl wurde ich 25 Jahre alt und hatte damit das erforderli­che Mindestalt­er.“

Marian Schreier ist seit 2015 Bürgermeis­ter von Tengen

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FOTOS: MAX KOVALENKO/IMAGO IMAGES
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