In Bayern schrillen Alarmglocken früher
Schon vor der Pandemie wurden Betriebe selten geprüft – Das Problem verschärft sich nun
(dpa) Zum besseren Schutz vor Corona-Infektionen hat Bayerns Regierung am Dienstag in München den Schwellenwert auf 35 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen in einer Stadt oder einem Landkreis herabgesetzt. Bund und Länder hatten sich zuvor auf einen Grenzwert von 50 Neuinfektionen geeinigt, ab dem konkrete Maßnahmen ergriffen werden müssen. In Baden-Württemberg gibt es Ideen, ab 35 Neuinfektionen ein Frühwarnsystem einzurichten.
- Ob Mundschutz im Supermarkt oder Abstand zwischen Tischen im Biergarten: Zum Schutz vor dem Coronavirus gelten überall neue Regeln. Doch wer kontrolliert, ob sie eingehalten werden? Vor allem Arbeitsschutz-Behörden sind seit Jahren unterbesetzt. Sowohl Aufsichtsbeamte als auch Gewerkschaften klagen, besonders der Schutz von Ärzten und Pflegepersonal gerate völlig aus dem Blick.
Für die Kontrollen der Vorgaben zum Pandemieschutz sind unterschiedliche Stellen zuständig. Die Ordnungsämter der Gemeinden haben sehr weitgehende Befugnisse. Sie dürfen in Parks, Fußgängerzonen, aber auch in Geschäften oder Kneipen nach dem Rechten sehen. In Bussen und Bahnen kontrollieren Verkehrsunternehmen. Die Polizei unterstützt im öffentlichen Raum – etwa, wenn sich mehr als die erlaubten Personen versammeln. Mehr als 25 000 Verstöße stellten Polizisten in Baden-Württemberg gegen diese Richtlinien in den vergangenen zwei Monaten fest. Es drohen Bußgelder von bis zu 1000 Euro. Nach der ersten großen Demonstration gegen die Corona-Auflagen in Stuttgart zeigten sich bereits die Tücken des Systems: Für die Einhaltung geltender Regeln sei zunächst die Stadt Stuttgart zuständig, beschied Innenminister Thomas Strobl (CDU). Die Stadt ist für ein Sicherheitskonzept verantwortlich und kann die Polizei zu Hilfe rufen.
Bei all diesen Kontrollen geht es um eine Frage: Wie gut sind die Bürger geschützt, halten sie sich an die Regeln? Ein weiteres, wichtiges Feld: Wie gut schützen Arbeitgeber ihre Angestellten? Dafür sind die Gewerbeaufsichtsämter der Landkreise und großen Städte verantwortlich. Doch schon ohne zahllose zusätzliche Corona-Regeln sind die Arbeitsschützer überlastet. Seit Jahren beklagen Wissenschaftler, Aufsichtsbeamte und Gewerkschaften den Personalmangel im Land. Bis zu 1000 neue Stellen wünscht sich der Deutsche Gewerkschaftsbund, 200 forderte zuletzt der Arbeitnehmerflügel der CDU. Interne Analysen kommen auf denselben Wert. Doch Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) scheiterte an den Grünen, als sie knapp 120 neue Posten forderte. Die Folge: Betriebe werden im Schnitt nur alle 30 Jahre kontrolliert. Da wundert es nicht, dass Missstände auf Schlachthöfen wie in Pforzheim lange unentdeckt bleiben.
Das Staatsministerium von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) verweist stets unter anderem auf die Zahl der Arbeitsunfälle im Land, die seit Jahren relativ konstant ist und hinter den Werten der anderen Flächenländer Bayern und Nordrhein-Westfalen liegt.
Teil des Problems: Die Behörden sind nirgendwo sonst so organisiert wie im Südwesten. Hier kontrollieren Beamte sowohl, ob Firmen Umweltauflagen einhalten, als auch Vorgaben zum Arbeitsschutz. Deshalb sind auch zwei unterschiedliche Ministerien zuständig, das Umwelt- und das Wirtschaftsressort. In einem Feld, in dem ständig neue Gefahrenstoffe bekannt werden, sich Regeln oft ändern, fehle das nötige Spezialwissen, bemängeln Experten. Niemand traue sich daher, Verstöße zu ahnden.
Nun sind seit Mitte März zahllose Auflagen für die Betriebe hinzugekommen, etwa Schutz für Kassenpersonal in Geschäften oder Abstand einzelner Büroarbeitsplätze. Für Krankenhäuser hingegen lockerte man zum Teil den Schutz. In Ausnahmen darf das Personal dort ZwölfStunden-Schichten leisten. „Wir haben damit grundsätzlich gar kein Problem, denn das ist an sehr strenge Auflagen geknüpft“, sagt Irene Gölz, bei der Gewerkschaft Verdi zuständig für Pflegepersonal. „Doch die Krankenhäuser werden so gut wie gar nicht kontrolliert. Einige nutzen die Lage aus und lassen ihre Angestellten ohne Not Zwölf-StundenSchichten arbeiten.“
Das bestätigt Michael von Koch von der Gewerkschaft der Gewerbeaufsichtsbeamten (BTBkomba): „Sensible Branchen wie Kliniken, aber auch die Polizei, hat das Land gar nicht im Blick.“Zwar haben Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut und Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) erkannt, dass der Bedarf an Arbeitsschützern hoch ist. Deshalb bitten sie die Landkreise, sich bei den entsprechenden Kontrollen zunächst auf die Einhaltung der entsprechenden Vorgaben zu konzentrieren. Gewerbeaufseher von Koch hält das für „ziemlichen Käse“. Die Minister empfehlen den Aufsehern vor allem, bislang für das Jahr 2020 geplante Schwerpunkte zu ändern. „Die Arbeitszeit für die Schwerpunktaktionen beträgt aber höchstens fünf Prozent“, schätzt von Koch. Außerdem gebe es lediglich Empfehlungen und keine landesweit einheitlichen Vorgaben – die zuständigen Landkreise könnten letztlich machen, was sie wollten.
Auf Anfrage betonen die Landkreise aus der Region, man bemühe sich um ausreichende Kontrollen. Es gebe nur wenige Verstöße, betroffene Betriebe zeigten sich kooperativ. Man könne aber nur Stichproben machen. Im Bodenseekreis sind zum Beispiel drei Kontrolleure für alle Betriebe im Handel und Dienstleistungsgewerbe zuständig, sie kontrollieren an zwei Vormittagen pro Woche.
Kleine und mittlere Unternehmen trifft hart, dass die Beamten wenig Zeit für Beratungen haben. Sie können sich keine Experten leisten, die den Dschungel der Vorschriften durchdringen. Derzeit ändern sich Vorgaben zur Corona-Pandemie oft über Nacht. „Als wir noch mehr Personal hatten, haben wir uns als kostenlose Unternehmensberatung für Betriebe mit bis zu 50 Mitarbeitern verstanden. Das geht heute gar nicht mehr“, moniert von Koch.
Arbeitsrechtler sehen ein weiteres Problem. Die Regeln für den Arbeitsschutz während der Pandemie seien nicht rechtssicher. Es drohe eine Prozessflut. „Ich rate meinen Kollegen im Land, mit Anordnungen gegen Betriebe sehr vorsichtig zu sein. Das steht alles auf tönernen Füßen“, so von Koch.