„Die Zahl der Klimatoten steigt“
Johannes Bauernfeind, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, erklärt, warum der Klimawandel auch Auswirkungen auf die Krankenkassen hat
- Versicherte, Rentner und Arbeitgeber aus Baden-Württemberg sollen zahlen, weil anderswo schlecht gewirtschaftet wurde. Das jedenfalls sagt Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der Krankenkasse AOK Baden-Württemberg mit rund 4,5 Millionen Versicherten. Im Interview mit Katja Korf erklärt er, wie es dazu kommt und warum gesetzlich Versicherte mehr Corona-Kosten schultern als die privaten Kassen.
Herr Bauernfeind, seit Anfang des Jahres sind Sie Chef der AOK in Baden-Württemberg. Dann kam die Corona-Pandemie. Was werden die Pandemie und ihre Folgen die AOK Baden-Württemberg kosten?
Für 2020 rechnen wir bislang mit einem ausgeglichenen Jahresergebnis. Wir können noch nicht genau absehen, was ein Corona-Behandlungsfall im Schnitt kostet. Aber es gibt noch viele andere Faktoren: Zum Beispiel gab es anfangs einen Run auf Apotheken, die Menschen haben sich mit Medikamenten eingedeckt. Im Monat danach haben sie bereits wieder viel weniger Arzneien gekauft als üblich. Hohe Kosten fallen für Schutzausrüstung bei Ärzten und in Kliniken an, die wir zum Teil erstatten. Und natürlich für die Corona-Tests. Leider tragen die privaten Krankenversicherungen in vielen Bereichen weniger bei als die gesetzlichen.
Inwiefern?
Nehmen Sie den Rettungsschirm für Arztpraxen: Daraus wird niedergelassenen Ärzten, wenn ihnen wegen ausbleibender Patienten während der Corona-Krise die Pleite drohte, ein Mindestniveau von 90 Prozent des bisherigen Honorars gesichert. Dafür zahlen private Krankenversicherungen nichts, das kommt aus Mitteln der gesetzlichen Krankenkassen. Diese halten das Gesundheitssystem trotz Corona leistungsfähig – davon profitieren auch die privat Versicherten. Da würde ich mir schon mehr finanzielle Zuschüsse von den privaten Krankenversicherungen wünschen.
Wird die Pandemie die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigen?
Ich glaube schon. Das sehen wir auch an den Ergebnissen einer Forsa-Umfrage unter 500 Internetnutzern ab 18 Jahren in Baden-Württemberg. Die Menschen stehen digitalen Angeboten wesentlich offener gegenüber als noch vor drei Jahren. Fast 60 Prozent sind bereit, Video-Sprechstunden bei Ärzten zu nutzen. Das waren 2017 nur etwa 30 Prozent. Heute würden es auch 82 Prozent der Befragten begrüßen, wenn sie Rezepte und Überweisungen zu anderen Ärzten etwa per E-Mail bekommen könnten – ein Zuwachs von 22 Prozentpunkten. So etwas wie die elektronische Patientenakte befürworten heute 77 Prozent. Wichtig ist dabei immer, nicht jene Menschen zu vergessen, denen das Know-how oder das Geld fehlt, um digitale Angebote zu nutzen. Die dürfen wir nicht ausschließen.
An einigen Orten im Land wurden ehemalige Krankenhäuser befristet wieder reaktiviert. Viele Bürger wünschen sich, dass der Kurs im Land gestoppt wird – also die Schließung kleiner Häuser und die Konzentration auf große Standorte. Ist das eine Lehre aus Corona?
Im Gegenteil: Die Pandemie hat bewiesen, dass der Kurs der richtige ist. Die großen, leistungsstarken Kliniken haben die Infizierten versorgt, die kleineren die Basisversorgung geleistet. Diese Aufteilung hat sich bewährt, wir müssen den Kurs fortsetzen.
Wo Krankenhäuser schließen, wird vieles als Ersatz versprochen –bis etwas passiert, dauert es oft. Warum?
Tatsächlich gibt es leider immer wieder Probleme bei Fragen etwa zu Notarztstandorten, der fachärztlichen Versorgung, Angeboten zur Kurzzeitpflege. Aber wir arbeiten an Modellen wie etwa in Spaichingen mit, an denen wir lernen. Wichtig ist auch, dass die Ärzte vor Ort bereit sind, in neuen Versorgungsformen zu arbeiten.
Die Bundesregierung will verhindern, dass die Sozialabgaben infolge der Corona-Krise steigen und zahlt Zuschüsse an die Krankenkassen. Freut Sie das?
Die Bundesregierung zahlt 2021 einmalig fünf Milliarden Euro. Insgesamt
muss aber ein Loch von 16,6 Milliarden Euro bei den Krankenkassen gestopft werden. Nur: Das reißt nicht die Corona-Krise, das entsteht wegen vorher beschlossener Gesetze der Bundesregierung. Einen Großteil des Fehlbetrags sollen die Krankenkassen aus ihren Rücklagen zahlen. Es wird also der bestraft, der bislang gut gewirtschaftet hat. Wir nutzen unsere Rücklagen ja gerade für Investitionen, die effizientere Versorgungsstrukturen ermöglichen – und damit künftig Ausgaben sparen und die Beiträge niedrig halten. Aus Baden-Württemberg fließt 2021 geschätzt eine Milliarde Euro auf diese Weise ab. Das Geld haben Arbeitgeber, Beschäftigte und Rentner im Land aufgebracht. Die vermeintliche Entlastung bei den Krankenkassenbeiträgen finanzieren die Beitragszahler also letztlich selbst.
Eine große Herausforderung ist durch Corona etwas in den Hintergrund gerückt – der Klimawandel. Heißere, trockene Sommer sind bereits als Folge spürbar. Merken Sie das?
Ja. Ein Beispiel: Die Zahl der Menschen, die wegen der Hitze etwa kollabieren und deshalb ärztlich behandelt werden müssen, ist 2019 doppelt so groß gewesen wie etwa 2014. Im Jahr 2014 kamen auf 100 000 Einwohner 71 Patienten, 2019 waren es 145. Und die Zahl der sogenannten Hitzetoten nimmt ebenfalls zu.
Bereitet sich die AOK darauf vor, dass klimabedingte Beschwerden vermehrt auftreten?
Um den Klimawandel zu stoppen reicht es nicht, einfach einen Hebel umzulegen. Die Menschen vor allem in den Industrienationen müssen ihr klimaschädliches Verhalten ändern. Also zum Beispiel weniger Fleisch essen, weniger fliegen, weniger Auto fahren. Wir sehen uns da als Vorreiter. Bis 2030 will die AOK BadenWürttemberg klimaneutral arbeiten. Schon heute legen wir die Hälfte der Dienstwagen-Fahrten elektrisch oder wenigstens teilelektrisch zurück. Wir nutzen Ökostrom und Produkte, die sowohl sozial als auch ökologisch nachhaltig produziert wurden.
Was bieten Sie Ihren Versicherten an?
Wir müssen das Bewusstsein dafür wecken, dass Gesundheit und Klimawandel zusammenhängen. Wir werben deshalb für klimafreundliches Verhalten, etwa mit unserer „Klimachallenge“, bei der Versicherte gemeinsam über 150 Tonnen CO2 eingespart haben – indem sie zum Beispiel eine Zeitlang auf Fleisch verzichtet haben oder auf eine Flugreise. In unseren Gesundheitskursen vermitteln wir hitzegerechte Ernährungs- und Trinkgewohnheiten. Wenn sich die Menschen so verhalten, dass sie trotz Hitze fit bleiben, senkt das wiederum Krankheitsrisiken.