Dauerkonflikt um 4400 Quadratmeter
Seit Jahren Streiten Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach – Erneut Tote bei Gefechten
- In dem blutigen Konflikt in der Südkaukasus-Region Berg-Karabach ist die Zahl der Toten weiter gestiegen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Armenien vom Montag wurden innerhalb eines Tages mehr als 20 eigene Soldaten getötet. Zudem seien 20 Zivilisten ums Leben gekommen. Damit stieg die Zahl der Getöteten auf armenischer Seite auf 250. Baku sprach von mehr als 24 getöteten Zivilisten seit Beginn der neuen Kämpfe vor gut einer Woche. Angaben zu Verlusten in der Armee wurden nicht gemacht. Zu Wochenbeginn gab es neue heftige Gefechte. Die Nato appellierte indes an die Türkei, für Deeskalation in der Region zu sorgen.
Worum geht es in dem Konflikt?
Es geht um 4400 Quadratkilometer Land, das Gebiet von Berg-Karabach. Die Enklave in Aserbaidschan wird traditionell mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Schon unter den Zaren und im russischen Bürgerkrieg hatte es in Aserbaidschan blutige Kämpfe zwischen der islamischen Bevölkerung und der christlich-armenischen Diaspora gegeben. Beim Zerfall der UdSSR brachen 1988 neue Massaker und ein Kleinkrieg um Karabach aus. Die siegreichen Armenier vertrieben etwa 40 000 Aserbaidschaner und besetzten mit einem breiten Landkorridor insgesamt 22 Prozent des aserbaidschanischen Staatsgebiets. Die wollen die Aserbaidschaner zurückhaben. Die Armenier aber fürchten in diesem Fall ein Blutbad für ihre 150 000 Landsleute dort.
Welche Rolle spielt die Religion?
Die Bevölkerung in Aserbaidschan besteht mehrheitlich aus schiitischen Muslimen. In Armenien leben vor allem orthodoxe Christen. Aber Religion ist nur ein Element der jahrhundertelangen ethnisch-kulturellen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und orientalischen Völkern im Südkaukasus. So stellen die Armenier ihre Feindschaft mit den Aserbaidschanern in die Tradition ihres Genozids durch den türkischen Erzfeind im ersten Weltkrieg. Obwohl die Aserbaidschaner religiös und ethnisch den Iranern viel näher stehen.
Von welcher Seite geht der Konflikt aus?
Die meisten Beobachter glauben, dass Aserbaidschan die Kämpfe Ende August begonnen hat. Auch vor dem Hintergrund wachsender innenpolitischer Unzufriedenheit. Aber seit dem Ende des Krieges 1994 scheitern alle Vermittlungsversuche der sogenannten Minsker Gruppe und Russlands auch an der Unversöhnlichkeit Armeniens.
Was treibt die politischen Führer an?
Der aserbaidschanische Staatschef Ilcham Alijew hat sein Amt 2003 praktisch geerbt. Er gilt wie auch andere postsowjetische Autokraten als korrupt, sein Clan soll einen Großteil der lukrativen Öl- und Gasexportwirtschaft des Landes kontrollieren. Bisher war ihm die Festigung seiner persönlichen Macht offenbar wichtiger als die Rückgewinnung
Berg-Karabachs. Aber nach Straßenprotesten in der Hauptstadt Baku, bei denen im Sommer eben das gefordert wurde, will er wohl die enormen Rüstungsausgaben der vergangenen Jahre in politisches Kapital ummünzen. Der armenische Premier Nikol Paschinjan kam 2018 als Führer einer demokratischen Straßenrevolution an die Macht, startete danach marktwirtschaftliche Reformen, Krieg kann er eigentlich nicht gebrauchen. Aber auch er präsentiert sich jetzt als eiserner Patriot.
Wie leben Armenier und Aserbaidschaner?
Armenien galt lange als Armenhaus des Kaukasus, aber vergangenes Jahr wuchs seine Wirtschaft um 8 Prozent, vor allem die IT- und Tourismusbranche. Unter Paschinjan wurde auch der Schattenwirtschaft der
Kampf angesagt, inzwischen beträgt das Durchschnittsmonatsgehalt 333 Dollar, praktisch soviel wie die 335 Dollar der Nachbarn im rohstoffreichen Aserbaidschan. Dort drückt die Korruption weiter auf den Lebensstandard der Durchschnittsbürger. Aber in beiden Staaten ist die Landbevölkerung weiter gezwungen, ihre Lebensmittel selbst zu produzieren.
Wie stark sind beide Seiten militärisch?
Auf dem Papier ist Aserbaidschan mindestens doppelt so stark wie Armenien. Sein Militärhaushalt beträgt 2,8 Milliarden gegenüber knapp 1,4 Milliarden Dollar auf der Gegenseite. Es unterhält 151 000 Soldaten, 570 Panzer und 17 Kampjets. Armenien dagegen nur 45 000 Soldaten, 110 Panzer und drei Kampfjets. Dennoch gelten die Armenier als militärisch stärker, hinzu kommen 20 000 Karabacher, die zum Äußersten entschlossen sind. Allerdings werden die Aserbaidschaner von türkischen Militärberatern unterstützt, laut CNN auch von syrischen Söldnern.
Welche Rolle spielen Rohstoffe in der Auseinandersetzung?
Berg-Karabach besitzt keine Rohstoffe, Aserbaidschan umso mehr. Sollten die Kämpfe jetzt eskalieren, könnte Armenien Öl- und Gasinfrastruktur mit Raketen beschießen. Russische Oppositionelle spekulieren, es wäre dem Kreml nur recht, wenn dabei die Gaspipeline von Baku über das georgische Tiflis ins türkische Erzurum beschädigt werde – die russische Konkurrenzrohrleitung Turkstream ist kaum ausgelastet.
Welche Interessen verfolgen Russland und die Türkei?
Militärisch ist Moskau mit Armenien verbündet, gibt sich aber neutral und mahnt bei beiden Seiten eine Verhandlungslösung an. Offenbar will es weiter den Schiedsrichter spielen. Russland, das auf verschiedenen Ebenen in Konflikte mit dem Westen verwickelt ist, scheint der Krieg im Südkaukasus eher ungelegen zu kommen. Umso lautstärker tritt die Türkei als neue Schutzmacht der Exsowjetrepublik Aserbaidschan auf. Fast scheint es, als wolle Erdogan testen, ob Kollege Wladimir Putin den Hinterhof seines Imperiums noch im Griff hat.
Welche Chancen hat eine friedliche Lösung?
Alijews Kalkül mag kurzfristig und populistisch sein. Aber für ganz Aserbaidschan ist das armenisch besetzte Karabach eine chronische nationale Unzumutbarkeit. Die Armenier wiederum sind überzeugt, ihren Landsleuten drohe ohne ihren militärischen Schutz eine blutige und totale ethnische Säuberung. Ein Kompromiss scheint unmöglich. Das Äußerste, was verhandelbar scheint, ist ein Herunterdrehen des Konfliktes, bevor er als großer Krieg auflodert.
Wie authentisch sind die veröffentlichten Videos und Fotos aus der Region?
Die Videos beider Seiten dienen Propagandazwecken – ebenso die Angaben über gegnerische Verluste. Wie in jedem Krieg ist es schwer, die Angaben zu verfizieren.