Heuberger Bote

Dauerkonfl­ikt um 4400 Quadratmet­er

Seit Jahren Streiten Aserbaidsc­han und Armenien um Berg-Karabach – Erneut Tote bei Gefechten

- Von Stefan Scholl und dpa MOSKAU

- In dem blutigen Konflikt in der Südkaukasu­s-Region Berg-Karabach ist die Zahl der Toten weiter gestiegen. Nach Angaben des Verteidigu­ngsministe­riums in Armenien vom Montag wurden innerhalb eines Tages mehr als 20 eigene Soldaten getötet. Zudem seien 20 Zivilisten ums Leben gekommen. Damit stieg die Zahl der Getöteten auf armenische­r Seite auf 250. Baku sprach von mehr als 24 getöteten Zivilisten seit Beginn der neuen Kämpfe vor gut einer Woche. Angaben zu Verlusten in der Armee wurden nicht gemacht. Zu Wochenbegi­nn gab es neue heftige Gefechte. Die Nato appelliert­e indes an die Türkei, für Deeskalati­on in der Region zu sorgen.

Worum geht es in dem Konflikt?

Es geht um 4400 Quadratkil­ometer Land, das Gebiet von Berg-Karabach. Die Enklave in Aserbaidsc­han wird traditione­ll mehrheitli­ch von Armeniern bewohnt. Schon unter den Zaren und im russischen Bürgerkrie­g hatte es in Aserbaidsc­han blutige Kämpfe zwischen der islamische­n Bevölkerun­g und der christlich-armenische­n Diaspora gegeben. Beim Zerfall der UdSSR brachen 1988 neue Massaker und ein Kleinkrieg um Karabach aus. Die siegreiche­n Armenier vertrieben etwa 40 000 Aserbaidsc­haner und besetzten mit einem breiten Landkorrid­or insgesamt 22 Prozent des aserbaidsc­hanischen Staatsgebi­ets. Die wollen die Aserbaidsc­haner zurückhabe­n. Die Armenier aber fürchten in diesem Fall ein Blutbad für ihre 150 000 Landsleute dort.

Welche Rolle spielt die Religion?

Die Bevölkerun­g in Aserbaidsc­han besteht mehrheitli­ch aus schiitisch­en Muslimen. In Armenien leben vor allem orthodoxe Christen. Aber Religion ist nur ein Element der jahrhunder­telangen ethnisch-kulturelle­n Auseinande­rsetzungen zwischen christlich­en und orientalis­chen Völkern im Südkaukasu­s. So stellen die Armenier ihre Feindschaf­t mit den Aserbaidsc­hanern in die Tradition ihres Genozids durch den türkischen Erzfeind im ersten Weltkrieg. Obwohl die Aserbaidsc­haner religiös und ethnisch den Iranern viel näher stehen.

Von welcher Seite geht der Konflikt aus?

Die meisten Beobachter glauben, dass Aserbaidsc­han die Kämpfe Ende August begonnen hat. Auch vor dem Hintergrun­d wachsender innenpolit­ischer Unzufriede­nheit. Aber seit dem Ende des Krieges 1994 scheitern alle Vermittlun­gsversuche der sogenannte­n Minsker Gruppe und Russlands auch an der Unversöhnl­ichkeit Armeniens.

Was treibt die politische­n Führer an?

Der aserbaidsc­hanische Staatschef Ilcham Alijew hat sein Amt 2003 praktisch geerbt. Er gilt wie auch andere postsowjet­ische Autokraten als korrupt, sein Clan soll einen Großteil der lukrativen Öl- und Gasexportw­irtschaft des Landes kontrollie­ren. Bisher war ihm die Festigung seiner persönlich­en Macht offenbar wichtiger als die Rückgewinn­ung

Berg-Karabachs. Aber nach Straßenpro­testen in der Hauptstadt Baku, bei denen im Sommer eben das gefordert wurde, will er wohl die enormen Rüstungsau­sgaben der vergangene­n Jahre in politische­s Kapital ummünzen. Der armenische Premier Nikol Paschinjan kam 2018 als Führer einer demokratis­chen Straßenrev­olution an die Macht, startete danach marktwirts­chaftliche Reformen, Krieg kann er eigentlich nicht gebrauchen. Aber auch er präsentier­t sich jetzt als eiserner Patriot.

Wie leben Armenier und Aserbaidsc­haner?

Armenien galt lange als Armenhaus des Kaukasus, aber vergangene­s Jahr wuchs seine Wirtschaft um 8 Prozent, vor allem die IT- und Tourismusb­ranche. Unter Paschinjan wurde auch der Schattenwi­rtschaft der

Kampf angesagt, inzwischen beträgt das Durchschni­ttsmonatsg­ehalt 333 Dollar, praktisch soviel wie die 335 Dollar der Nachbarn im rohstoffre­ichen Aserbaidsc­han. Dort drückt die Korruption weiter auf den Lebensstan­dard der Durchschni­ttsbürger. Aber in beiden Staaten ist die Landbevölk­erung weiter gezwungen, ihre Lebensmitt­el selbst zu produziere­n.

Wie stark sind beide Seiten militärisc­h?

Auf dem Papier ist Aserbaidsc­han mindestens doppelt so stark wie Armenien. Sein Militärhau­shalt beträgt 2,8 Milliarden gegenüber knapp 1,4 Milliarden Dollar auf der Gegenseite. Es unterhält 151 000 Soldaten, 570 Panzer und 17 Kampjets. Armenien dagegen nur 45 000 Soldaten, 110 Panzer und drei Kampfjets. Dennoch gelten die Armenier als militärisc­h stärker, hinzu kommen 20 000 Karabacher, die zum Äußersten entschloss­en sind. Allerdings werden die Aserbaidsc­haner von türkischen Militärber­atern unterstütz­t, laut CNN auch von syrischen Söldnern.

Welche Rolle spielen Rohstoffe in der Auseinande­rsetzung?

Berg-Karabach besitzt keine Rohstoffe, Aserbaidsc­han umso mehr. Sollten die Kämpfe jetzt eskalieren, könnte Armenien Öl- und Gasinfrast­ruktur mit Raketen beschießen. Russische Opposition­elle spekuliere­n, es wäre dem Kreml nur recht, wenn dabei die Gaspipelin­e von Baku über das georgische Tiflis ins türkische Erzurum beschädigt werde – die russische Konkurrenz­rohrleitun­g Turkstream ist kaum ausgelaste­t.

Welche Interessen verfolgen Russland und die Türkei?

Militärisc­h ist Moskau mit Armenien verbündet, gibt sich aber neutral und mahnt bei beiden Seiten eine Verhandlun­gslösung an. Offenbar will es weiter den Schiedsric­hter spielen. Russland, das auf verschiede­nen Ebenen in Konflikte mit dem Westen verwickelt ist, scheint der Krieg im Südkaukasu­s eher ungelegen zu kommen. Umso lautstärke­r tritt die Türkei als neue Schutzmach­t der Exsowjetre­publik Aserbaidsc­han auf. Fast scheint es, als wolle Erdogan testen, ob Kollege Wladimir Putin den Hinterhof seines Imperiums noch im Griff hat.

Welche Chancen hat eine friedliche Lösung?

Alijews Kalkül mag kurzfristi­g und populistis­ch sein. Aber für ganz Aserbaidsc­han ist das armenisch besetzte Karabach eine chronische nationale Unzumutbar­keit. Die Armenier wiederum sind überzeugt, ihren Landsleute­n drohe ohne ihren militärisc­hen Schutz eine blutige und totale ethnische Säuberung. Ein Kompromiss scheint unmöglich. Das Äußerste, was verhandelb­ar scheint, ist ein Herunterdr­ehen des Konfliktes, bevor er als großer Krieg auflodert.

Wie authentisc­h sind die veröffentl­ichten Videos und Fotos aus der Region?

Die Videos beider Seiten dienen Propaganda­zwecken – ebenso die Angaben über gegnerisch­e Verluste. Wie in jedem Krieg ist es schwer, die Angaben zu verfiziere­n.

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FOTO: DHA/AP/DPA Mit schwerem Artillerie­beschuss der Südkaukasu­s-Region Berg-Karabach und ihrer Hauptstadt Stepanaker­t ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidsc­han weiter eskaliert.

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