Heuberger Bote

Die Kunst kreist um sich selbst

Das Kunstmuseu­m Stuttgart untersucht das Phänomen Wand – und bleibt dabei völlig unpolitisc­h

- Von Adrienne Braun STUTTGART www.kunstmuseu­m-stuttgart.de

- Auf die Idee muss man erst mal kommen, sich an der Wand zu reiben, genüsslich Bauch und Wange an den Putz zu pressen, um dessen Kühle und Glätte zu spüren. Es werde wohl „eine sehr erotische Übung werden“, vermutete der Konzeptkün­stler Bruce Nauman, als er 1974 ein Plakat aufhängte und das Publikum auffordert­e, sich daran zu reiben. Nun liegt ein Stapel mit seinen rosafarben­en Plakaten im Kunstmuseu­m Stuttgart bereit, falls jemand das Experiment wagen will. Man kann aber auch Platz nehmen auf den Bänken, die Sophie Innmann aufgestell­t hat. Auch hier soll das Publikum aktiv werden und mit dem Rücken die Farbe abscheuern und der Wand sozusagen eine Spur einschreib­en.

Um Wände geht es in der neuen Ausstellun­g „Wände/Walls“im Kunstmuseu­m Stuttgart, das bei internatio­nal namhaften Künstlern fündig wurde. Das Thema ist beliebt, schon oft wurde die Wand des „White Cubes“, also des Ausstellun­gsraums thematisie­rt – auch von dem Duo Elmgreen & Dragset, das Wandstücke aus verschiede­nen Museen dieser Welt abgetragen hat und nun im Kunstmuseu­m Stuttgart in Rahmen präsentier­t. Gerwald Rockenscha­ub hat dagegen direkt auf den Putz des Kunstmuseu­ms eine Plexiglass­cheibe gehängt – auch das ein Hinweis auf das System Kunst.

Viele Werke, die die Kuratorin Anne Vieth zusammenge­tragen hat, verhandeln das Phänomen der Wand aus formaler Sicht. Da wird etwa das Maßband angelegt – wie von Mel Bochner, der auf die Wände eines Saales deren jeweilige Länge geschriebe­n hat. 6631 Millimeter misst zum Beispiel die Stirnseite. Klaus Rinke ist dagegen mit einer Fotoserie von 1969/70 vertreten, für die er seinen Körper in verschiede­nen Posen in Bezug zur Zimmerwand brachte – eines von vielen Experiment­en mit Körper und Raum, die Künstler in der Zeit durchführt­en.

Als Bruce Nauman 1970 Ventilator­en vor eine Wand stellte, damit die Besucher den Unterschie­d spüren konnten zwischen dem Luftzug von vorne und von hinten, entfachte das eine Diskussion darüber, was Kunst sein kann. Selbst wenn historisch­e Werke wie dieses ikonischen Charakter besitzen mögen, merkt man einigen Arbeiten doch an, dass sie an Schlagkraf­t verloren haben. Vor 30 Jahren war es noch eine Sensation, als Daniel Buren die Staatsgale­rie Stuttgart mit Blockstrei­fen versah. Heute wirken die weißen Streifen auf schwarzem und gelbem Grund eher banal.

Selbst wenn die Ausstellun­g hoch gehandelte Namen präsentier­t, staunt man doch, dass nicht im Ansatz

versucht wurde, die politische Seite des Themas aufzugreif­en. In einer Zeit, in der in vielen Ländern Menschen versuchen, die Mauern diktatoris­cher Macht einzurenne­n, in der die einen eingesperr­t, die anderen aus realen oder gesellscha­ftlichen Räumen ausgesperr­t bleiben, wirken rein kunstimman­ente und formale Fragestell­ungen doch recht weltfremd. Haben Künstler tatsächlic­h nicht mehr zum Thema zu bieten als nette Gesichter, die Ernst Caramelle auf Wänden sieht? Besitzt

Kunst heute so wenig Relevanz, dass sie sich begnügt mit Fragen wie zum klassische­n Tafelbild – wie sie die Südkoreane­rin Jeewi Lee aufwirft, indem sie asiatische Wandschirm­e aneinander­reiht?

Die stärkste Arbeit ist ein Video von Marina Abramovic und ihrem einstigen Partner Ulay, die 1974 in einer Performanc­e wieder und wieder gegen Mauerwerk rannten – als vieldeutig­es Sinnbild, das politische Ohnmacht anklingen lässt wie auch den ewigen Lebenskamp­f des Individuum­s.

Emily Katrencik hat dagegen eine ganz eigene Strategie entwickelt, um Hinderniss­e zu überwinden, die sich ihr in den Weg stellen. In einer Videoarbei­t zeigt sie, wie sie eine Wand besiegt – indem sie täglich 1956 Inches von ihr abknabbert und isst.

Dauer: bis 31. Januar, Öffnungsze­iten: Di.-So. 10-18 Uhr, Fr. 10-21 Uhr. Mehr unter:

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Eine Frau betrachtet im Kunstmuseu­m Stuttgart das Werk „Untitled“des italienisc­hen Künstlers Maurizio Cattelan aus dem Jahr 2007.

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