Die Kunst kreist um sich selbst
Das Kunstmuseum Stuttgart untersucht das Phänomen Wand – und bleibt dabei völlig unpolitisch
- Auf die Idee muss man erst mal kommen, sich an der Wand zu reiben, genüsslich Bauch und Wange an den Putz zu pressen, um dessen Kühle und Glätte zu spüren. Es werde wohl „eine sehr erotische Übung werden“, vermutete der Konzeptkünstler Bruce Nauman, als er 1974 ein Plakat aufhängte und das Publikum aufforderte, sich daran zu reiben. Nun liegt ein Stapel mit seinen rosafarbenen Plakaten im Kunstmuseum Stuttgart bereit, falls jemand das Experiment wagen will. Man kann aber auch Platz nehmen auf den Bänken, die Sophie Innmann aufgestellt hat. Auch hier soll das Publikum aktiv werden und mit dem Rücken die Farbe abscheuern und der Wand sozusagen eine Spur einschreiben.
Um Wände geht es in der neuen Ausstellung „Wände/Walls“im Kunstmuseum Stuttgart, das bei international namhaften Künstlern fündig wurde. Das Thema ist beliebt, schon oft wurde die Wand des „White Cubes“, also des Ausstellungsraums thematisiert – auch von dem Duo Elmgreen & Dragset, das Wandstücke aus verschiedenen Museen dieser Welt abgetragen hat und nun im Kunstmuseum Stuttgart in Rahmen präsentiert. Gerwald Rockenschaub hat dagegen direkt auf den Putz des Kunstmuseums eine Plexiglasscheibe gehängt – auch das ein Hinweis auf das System Kunst.
Viele Werke, die die Kuratorin Anne Vieth zusammengetragen hat, verhandeln das Phänomen der Wand aus formaler Sicht. Da wird etwa das Maßband angelegt – wie von Mel Bochner, der auf die Wände eines Saales deren jeweilige Länge geschrieben hat. 6631 Millimeter misst zum Beispiel die Stirnseite. Klaus Rinke ist dagegen mit einer Fotoserie von 1969/70 vertreten, für die er seinen Körper in verschiedenen Posen in Bezug zur Zimmerwand brachte – eines von vielen Experimenten mit Körper und Raum, die Künstler in der Zeit durchführten.
Als Bruce Nauman 1970 Ventilatoren vor eine Wand stellte, damit die Besucher den Unterschied spüren konnten zwischen dem Luftzug von vorne und von hinten, entfachte das eine Diskussion darüber, was Kunst sein kann. Selbst wenn historische Werke wie dieses ikonischen Charakter besitzen mögen, merkt man einigen Arbeiten doch an, dass sie an Schlagkraft verloren haben. Vor 30 Jahren war es noch eine Sensation, als Daniel Buren die Staatsgalerie Stuttgart mit Blockstreifen versah. Heute wirken die weißen Streifen auf schwarzem und gelbem Grund eher banal.
Selbst wenn die Ausstellung hoch gehandelte Namen präsentiert, staunt man doch, dass nicht im Ansatz
versucht wurde, die politische Seite des Themas aufzugreifen. In einer Zeit, in der in vielen Ländern Menschen versuchen, die Mauern diktatorischer Macht einzurennen, in der die einen eingesperrt, die anderen aus realen oder gesellschaftlichen Räumen ausgesperrt bleiben, wirken rein kunstimmanente und formale Fragestellungen doch recht weltfremd. Haben Künstler tatsächlich nicht mehr zum Thema zu bieten als nette Gesichter, die Ernst Caramelle auf Wänden sieht? Besitzt
Kunst heute so wenig Relevanz, dass sie sich begnügt mit Fragen wie zum klassischen Tafelbild – wie sie die Südkoreanerin Jeewi Lee aufwirft, indem sie asiatische Wandschirme aneinanderreiht?
Die stärkste Arbeit ist ein Video von Marina Abramovic und ihrem einstigen Partner Ulay, die 1974 in einer Performance wieder und wieder gegen Mauerwerk rannten – als vieldeutiges Sinnbild, das politische Ohnmacht anklingen lässt wie auch den ewigen Lebenskampf des Individuums.
Emily Katrencik hat dagegen eine ganz eigene Strategie entwickelt, um Hindernisse zu überwinden, die sich ihr in den Weg stellen. In einer Videoarbeit zeigt sie, wie sie eine Wand besiegt – indem sie täglich 1956 Inches von ihr abknabbert und isst.
Dauer: bis 31. Januar, Öffnungszeiten: Di.-So. 10-18 Uhr, Fr. 10-21 Uhr. Mehr unter: