Das große Bild wird immer klarer
Johannes Rydzek, Nordischer Kombinierer aus Oberstdorf, erarbeitet sich auf der Schanze Spaß und Fluss zurück – Ziel sind die Titelkämpfe daheim
- Nein, man muss sich keine Gedanken machen um Johannes Rydzek. Nicht um den privaten Johannes Rydzek, auch wenn seine Frau Lissi und er ihre kirchliche Hochzeit diesen Sommer absagen mussten coronahalber. Standesamtlich sind beide schon zwei Jahre ein Paar, vor den Altar treten werden sie nun halt 2021. Auch um den studierenden Johannes Rydzek – Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau an der Hochschule Kempten – braucht niemand sich zu sorgen. Ihn gibt es nicht mehr. 73 Seiten Bachelorarbeit sind geschrieben, abgegeben und benotet: mit 1,7.
Alles bestens. Doch der öffentliche, öffentlich interessierende Johannes Rydzek ist der nordisch kombinierende. Er, 29 bald, auf höchstem Niveau dabei seit November 2008, hat in seinem Sport ziemlich alles erreicht. War Doppel-Olympiasieger und sechsmal Weltmeister, bejubelte solo und im Team bislang 25 WeltcupErfolge. Und dann so eine Saison: 14. im Gesamtklassement, Sechstbester in der Loipe zwar, Position 38 indes nur in der Sprunghierarchie. Johannes Rydzek fixiert einen Punkt in gebührender Ferne. Lächelt. Sagt: „Viele Jahre wie das letzte muss ich jetzt nicht haben.“Sagt: „Aber aktuell macht’s mir sehr, sehr viel Spaß.“141 Tage vor Beginn der Heim-WM (23. Februar bis 7. März) sagt Johannes Rydzek, Nordischer Kombinierer des SC 1906 Oberstdorf: „Ich seh’ wieder das Ziel ...“
Das Problem sah Johannes Rydzek bereits länger; es trefflich zu sezieren fällt ihm leicht. Gleich „von der Hocke weg“sei sein Sprung „einfach nicht im Gleichgewicht“gewesen. „Ich hab’ mir oft schwergetan, die Anfahrtsposition zu finden – sprich: Bin ich zu hoch, zu tief, zu weit vorne, zu aggressiv oder doch zu weit hinten?“Konsequenz: „Dass ich die Kraft, die ich hab’ – und von der ich auch leb’ –, nicht an den Schanzentisch bringe.“Wild, „oft sehr, sehr wild“werde der Übergang so, es fehlten Balance und Fluss. Folglich fehlten auch: Meter.
Und das in einem Winter, in dem Jarl Magnus Riiber, Jens Lurås Oftebro, Espen Bjørnstad aus Norwegen, in dem die Österreicher Franz-Josef Rehrl und Martin Fritz mit Macht vorneweg flogen. „Mit ’nem Sprungstil, der sehr nah am Spezialsprung ist.“Von der Dynamik, der Aerodynamik her. Für Johannes Rydzek hieß das: Allzu oft ging er mit einer allzu großen Hypothek auf die Zehn-Kilometer-Langlaufrunde. Derlei Fehlerbilder lassen sich im laufenden (Weltcup-)Betrieb nicht so eben mal korrigieren. „Man probiert und macht – aber es wird nicht besser.“Zäh sei das, „frustrierend. Weil ich ja weiß, was in mir steckt, was ich imstande bin zu leisten. Wenn man merkt, es schlummert so viel in einem, aber man kommt da einfach grad nicht ran. Man hat keinen Zugang dazu, man kann es nicht abrufen.“
Daran etwas ändern – ein anspruchsvolles Projekt. „Eine neue Herausforderung“, sagt Johannes Rydzek, anzugehen in Sommer und Herbst, während der Saisonvorbereitung. Covid-19-bedingt verlief die mitunter einsam, das Sich-messenKönnen in der Gruppe fehlte, der Austausch mit den Kollegen. Intensiv Zwiesprache allerdings hielt Johannes Rydzek mit Heinz Kuttin. Der Kärntner war als Österreichs Skisprung-Nationaltrainer Mentor etwa Stefan Krafts (zudem 1991 selbst zweimal Weltmeister), ins Team um Kombinationsbundestrainer Hermann Weinbuch bringt er seine Kompetenz als Nachfolger Ronny Ackermanns ein. Dessen WM-Doppelgold anno 2005 in Oberstdorf ist für den 13-jährigen Kombinierer Johannes Rydzek aus Oberstdorf gewaltiger Motivationsschub gewesen; der Sprungtrainer Ronny Ackermann war von 2011 an Wegbegleiter und -bereiter bei all seinen großen Siegen. „Ein wichtiger
Mann!“– der im Frühjahr „einfach Platz machen wollte für ’nen neuen Input“. Liefern soll den: Heinz Kuttin.
Er liefert. Lässt konsequent-konzentriert an den „Basissachen“arbeiten, überrascht zwischendurch mit der Einladung zum Bodyflying im Windtunnel in Taufkirchen, nimmt Zweifel (die Johannes Rydzek an der Schanze keineswegs exklusiv hatte), indem er Schritt für Schritt geht. Teilerfolge, seien sie noch so klein, machen stärker, sind gut fürs Selbstvertrauen. Am Ende soll ein Gesamtbild (ent)stehen. Nach jetzt fast fünf gemeinsamen Monaten sagt Johannes Rydzek: „So langsam zeichnet’s sich ab und wird immer klarer. Ich glaub’, ich bin auf einem echt guten Weg.“
Führen soll der zur WM-Teilnahme Ende Februar. Die sechste wäre das für Johannes Rydzek – und: „ein Privileg“. Titelkämpfe daheim, am Schattenberg, im Ried, „es ist einfach mein Wohnzimmer“. Nur: Was, wenn das Zimmer voll ist? 2019/20 war Johannes Rydzek hinter Vinzenz Geiger (Gesamtweltcup-Dritter), Fabian
Rießle (Fünfter), Eric Frenzel (Siebter) und Manuel Faißt (Zehnter) fünftbester Deutscher, Startplätze bei Weltmeisterschaften gibt es gemeinhin vier. Oberstdorf 2021 womöglich ohne den Oberstdorfer? Den so eloquenten WM-Botschafter, der beim Rundgang durchs rundum geliftete Langlaufzentrum ins Schwärmen kommt? Den Bachelor, der seinen akademischen Grad und besagte 1,7 mit einer Handlungsempfehlung für die nachhaltige Nutzung eben dieser Sportanlage erreicht hat? Oberstdorf 2021 also ohne Johannes Rydzek?
Natürlich hat der – „ich grübel schon gern“– diese schlechteste aller Möglichkeiten im Hinterkopf: „Ich weiß, dass das passieren kann.“Falls nun irgendwem die Idee kommt, man müsse sich doch um den öffentlich interessierenden, den nordisch kombinierenden Johannes Rydzek Gedanken machen, sei hier versichert: Johannes Rydzek schaute überaus entschlossen nach diesem Satz. Der nächste ging so: „Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es nicht passiert.“