Erdogan überschätzt sich
Das neue Selbstverständnis der Türkei als Regionalmacht führt sie von der EU weg – und in eine Konfrontation mit Russland. Der EU-Fortschrittsbericht wirft Ankara vor, in der Außenpolitik immer weniger mit Europa gemein zu haben. Im Konflikt in Berg-Karabach engagiert sich die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan in einem Gebiet, das Russland zu seinem Machtbereich zählt. Das Verhältnis zu den USA ist auch schwierig. Bisher tut Ankara diese Probleme als Reaktion von Rivalen auf die neue Stärke der Türkei ab. Doch die Regierung überschätzt sich.
Die Türkei sei von Feinden umzingelt, sagte Erdogan unlängst. Seine Regierung wittert überall Gegner, die seinem Land den Aufstieg nicht gönnen wollen. Dieser Blickwinkel macht es schwer, nach Kompromissen zu suchen, weil dann jedes Nachgeben als Niederlage erscheinen könnte. Das gilt selbst für Kleinigkeiten. So gab man sich große Mühe, die Heimkehr eines Schiffes, das im Mittelmeer nach Erdgas gesucht hatte, als technischen Zwischenstopp hinzustellen. Unter keinen Umständen sollte der Eindruck entstehen, die Türkei höre auf EU-Mahnungen.
Zudem spielen internationale Allianzen keine große Rolle. Je nach Bedarf kann Ankara nach Meinung der Regierung mal mit dem Westen, mal mit Russland oder mit China zusammenarbeiten. Doch der Türkei fehlt die Kraft für eine unabhängige Großmachtrolle zwischen den globalen Blöcken USA, Russland, China und EU. Die aggressive Regierungsrhetorik gaukelt mehr außenpolitische Stärke vor, als tatsächlich vorhanden ist. In ihrer Nachbarschaft steht die Türkei bis auf die Allianz mit Aserbaidschan isoliert da, im Nahen Osten sind Katar und die von Ankara abhängige libysche Regierung die einzigen Verbündeten.
Erdogans Außenpolitik ist hoch riskant. Wer sich mit allen anlegt, wird irgendwann alle gegen sich aufgebracht haben. Mit jedem Abenteuer im Kaukasus, im Mittelmeer oder in Nahost wächst die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Dann wird die Türkei wieder Freunde brauchen – aber vielleicht keine mehr finden.