„Es nimmt einen schon mit, auch privat“
Marquardts Betriebsratsvorsitzender Antonio Piovano über Stellenabbau in Corona-Zeiten
- Wenn größere Unternehmen Stellen streichen müssen, dann ist in der Regel auch deren Betriebsrat eingebunden. Er vertritt die Interessen der Arbeitnehmer und versucht, wichtige Entscheidungen im Unternehmen im Sinne der Belegschaft zu beeinflussen. In Zeiten der Corona-Pandemie ist diese Aufgabe nicht leicht. Antonio Piovano, Betriebsratsvorsitzender des Rietheimer Automobilzulieferers Marquardt, spricht im Interview mit Redakteurin Alena Ehrlich über Stellenabbau, Existenzängste in der Belegschaft und harte Verhandlungen in Zeiten der Corona-Krise.
Herr Piovano, aufgrund der Corona-Krise baut Marquardt bis zu 200 zusätzliche Stellen ab – so sozialverträglich wie möglich, betont die Geschäftsführung. Sind Sie aus Sicht des Betriebsrats mit dem Ergebnis der Verhandlungen zufrieden?
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht zufrieden. Wir haben den Sozialplan und den Interessensausgleich mitverhandelt. Und als Betriebsrat haben wir das Beste für die Mitarbeiter rausholen können.
Welche Punkte wurden bei der Verhandlung am meisten diskutiert?
Der Arbeitgeber hätte sich eine Namensliste gewünscht, dem ist der Betriebsrat nicht nachgegangen. Namensliste heißt, dass es eine Liste gibt, auf der die Personen stehen, die gekündigt werden sollen. Wenn der Betriebsrat diese Liste unterschreibt, dann hat der Arbeitgeber eine Rechtssicherheit, wenn es beispielsweise zu Klagen kommt.
Der zweite Teil ist der Sozialplan nach den Sozialkriterien des Bundesarbeitsgerichts. Dazu gehören Faktoren wie Betriebszugehörigkeit, Alter, Familienstand, Kinder und Schwerbehinderung. Nach diesen Kriterien entscheiden wir.
Ein ganz schwieriger Punkt ist das Geld, der Faktor der Abfindung. Am Ende haben wir uns geeinigt bei einem Faktor von 0,6 für die Kolleginnen und Kollegen, die sich entscheiden, in die Auffanggesellschaft zu gehen oder Aufhebungsverträge zu unterschreiben. Wer das nicht tut, dem kann der Arbeitgeber ab Januar betriebsbedingt kündigen. Diese Mitarbeiter bekommen dann eine geringere Abfindung mit dem Faktor 0,4.
Stellenabbau ist bei Marquardt kein neues Thema. Im Rahmen des Transformations- und Effizienzprogramms wurden bereits im Februar dieses Jahres 200 Stellen gestrichen. Nun kommt der coronabedingte Stellenabbau von weiteren 200 Stellen hinzu. Inwiefern unterscheiden sich diese beiden Situationen?
Wir hatten ja im Februar den ersten Abbau, von dem 200 Kolleginnen und Kollegen betroffen waren. Damit wäre das Thema Stellenabbau eigentlich erst einmal durch gewesen, auch wenn ich nicht sagen kann, ob das ein, zwei oder fünf Jahre gehalten hätte. Dann kam ab April das Thema Corona auf und das hat uns sehr zurückgeworfen. So sehr, dass die Geschäftsführung auf uns zugekommen ist, und uns sagte, dass die 200 Kollegen aus dem Transformationsprogramm zu wenige sind, weil uns die Kosten davongelaufen sind und wir gleichzeitig zu wenig Umsatz gemacht haben.
Bei Marquardt lagen die Umsätze im ersten Halbjahr 35 Prozent unter Plan. Inwiefern wirken sich solche Zahlen auf die Kompromissbereitschaft von Seiten des Betriebsrats aus?
Der Betriebsrat ist zwar für die Belegschaft da, aber auch für das Unternehmen. Wir müssen auch schauen, dass das Unternehmen überlebt. Es ist ein Unterschied, ob man sagt, man muss Insolvenz anmelden und 2500 Mitarbeiter entlassen, oder es ist ein Teil der Mitarbeiter, der gehen muss, damit das Unternehmen erhalten bleibt und den Arbeitsplatz für die restliche Belegschaft sichert.
Ist es in einer Situation wie der Corona-Krise, die allgegenwärtig ist, leichter, das Verständnis der Mitarbeiter zu bekommen?
Ja, eindeutig. Das ist ein riesengroßer Unterschied zu der Transformation im Februar. Damals hatten wir keine wirtschaftliche Krise, da kam Corona gerade auf. Die Auswirkungen der Pandemie treffen ja nicht nur Marquardt, sondern die ganze Welt. Insbesondere in Deutschland ist es das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass es der Wirtschaft so schlecht geht. Die Kollegen haben da schon Verständnis, auch in den Gesprächen. Aber dann kommt trotzdem immer wieder die Frage: Warum ich?
Als Betriebsratsvorsitzender vertreten Sie die Interessen der Arbeitnehmer. Die Corona-Pandemie wirkt sich privat wie beruflich massiv auf deren Lebensumstände aus. Welches sind die größten Sorgen und Ängste, die momentan von Seiten der Mitarbeiter an Sie herangetragen werden?
Die Angst vor Arbeitsplatzabbau und damit einhergehend große Existenzängste. Wir haben viele alleinerziehende Mütter, Mitarbeiter, die Familienangehörige pflegen, und
Mitarbeiter, die älter sind. Man muss wissen, dass es bei Marquardt Betriebszugehörigkeiten von 20, 30 Jahren und mehr gibt. Bisher war es auch immer so: Wer bei Marquardt gearbeitet hat, musste sich keine Sorgen machen. Diese Existenzängste sind wirklich ganz schlimm.
Wie schafft man es als Vorsitzender des Betriebsrats, da noch die Distanz zu halten?
Das fällt schon sehr schwer. Man kennt ja die Kollegen, den einen mehr, den anderen weniger. Wenn Sie mich jetzt fragen würden, ob ich das schon verarbeitet habe: Nein, noch lange nicht. Wir wissen, dass es wichtig für das Unternehmen ist, diese Schritte zu gehen, aber es nimmt einen schon mit, auch privat.
Als Mitglied des Betriebsrats müssen Sie selbst nicht um Ihren Arbeitsplatz bangen. Wie gehen Sie in Ihrer Position mit den Sorgen Ihrer Kollegen um?
Als Betriebsrat ist man unkündbar, das ist richtig. Aber ich kann Ihnen versichern: Das, was meine Kollegen jetzt mitmachen, habe ich selbst in einer anderen Firma auch mitgemacht. Betriebsschließung, Auffanggesellschaft, Arbeitsplatzverlust. Ich kann mitfühlen, wie sich die Kollegen bei dem Thema fühlen und welche Ängste sie mitmachen, weil ich es selbst auch durchgemacht habe.
Und wie lassen sich da die Zukunftsängste der Kollegen nehmen?
Zuhören ist ganz wichtig, und die Themen annehmen. Wenn man unterstützen kann, dann macht man das gerne. Zum Beispiel hat man ja auch außerhalb von Marquardt Beziehungen. Wenn man sieht, dass eine andere Firma jemanden sucht, dann versucht man auch, zu vermitteln. Das ist in der jetzigen Situation mit Corona aber sehr schwer.
Seit Oktober scheint es bei Marquardt ja einen kleinen Lichtblick zu geben. Die Kurzarbeit ist ausgesetzt, die Talsohle scheinbar durchschritten. Steigt da auch von Seiten der Belegschaft wieder der Optimismus?
Optimismus ist da. September und Oktober sind bisher zwei gute Monate, in denen wir merken: Es zieht an. Trotzdem gibt es bei Kollegen, aber auch bei der Geschäftsführung und im Betriebsrat die Sorge: Wie lange hält das an? Wir haben keine Glaskugel, eine Unsicherheit ist schon nach da. Aber es motiviert im Moment, dass es wieder etwas bergauf geht.
Also müssen die Kollegen nicht mit einer weiteren Kündigungswelle rechnen?
Es kommen Kollegen und fragen: Wann kommt die dritte Welle? Es kommt keine dritte Welle – außer es gibt einen weiteren Stillstand wegen der Corona-Krise. Es ist schwierig zu sagen. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Wirtschaft jetzt wieder nach oben geht, dass die Kolleginnen und Kollegen sich wieder sicher sein können, dass sie bei Marquardt eine gute Zukunft haben. Es wird Zeit, dass wir alle wieder zur Ruhe kommen.