Steinmeier in Quarantäne statt beim Friedenspreis
Der indische Ökonom und Philosoph Amartya ist mit dem Friedenspreis des Buchhandels geehrt worden
(dpa) - Coronabedingt war es eine außergewöhnliche Ehrung am Sonntag in Frankfurt: Der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, konnte aber aufgrund der Pandemie nicht in der Paulskirche anwesend sein. Der 86-Jährige, geehrt für seine Forschung zur „globalen Gerechtigkeit“, wurde aus Boston zugeschaltet. Auch Laudator Frank-Walter Steinmeier musste passen. Nach einem positiven Corona-Test eines Personenschützers befindet sich der Bundespräsident, inzwischen negativ getestet, in Quarantäne.
- Ganz weit oben steht Deutschland auf dem „Index der Menschlichen Entwicklung“. Nummer vier hinter Norwegen, der Schweiz und Irland bedeutet, dass es sich in kaum einem Land dieser Welt besser leben lässt als hier. Den letzten Platz unter 189 Staaten, die das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen listet, nimmt das afrikanische Land Niger ein.
Viele Bürgerinnen und Bürger hierzulande mögen das anders sehen. Wahrscheinlich haben nicht wenige unter ihnen individuell und auch politisch betrachtet sogar Recht. Nachvollziehbar verweisen sie auf die Defizite dieser Gesellschaft. Sie kritisieren die soziale Ungerechtigkeit – den eklatanten und wachsenden Abstand zwischen Armen, die in Mülleimern nach Flaschen suchen, und Reichen, die Hunderte Millionen Euro für eine Privatyacht ausgeben können. Sie prangern die Armut Hunderttausender Kinder im reichen Deutschland an, die Rücksichtslosigkeit dieses Landes gegenüber den im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen. Oder sie demonstrieren gegen die geplante Asphaltierung der Natur, wie gerade im Dannenröder Wald in Hessen.
Solche Sichtweisen spiegeln die eine Perspektive. Mit ebenfalls plausiblen Argumenten lassen sich jedoch auch Gegenpositionen vertreten: Armut kann man nicht abschaffen; Europa kann nicht alle aufnehmen, die kommen wollen; für Wirtschaftswachstum braucht man neue Autobahnen. Man mag ewig streiten, denn in derartigen Kontroversen werden fundamentale politisch-ethische Möglichkeiten verhandelt: Was ist eine gute Entwicklung? Was bedeutet Gerechtigkeit? Wohin soll sich diese Gesellschaft künftig bewegen?
Potenzielle Antworten auf Fragen wie diese schlummern im Werk von Amartya Sen. Der in Indien geborene Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph hat am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen – traditionell verliehen zur Frankfurter Buchmesse. Der 86jährige Sen, Professor an der Harvard-Universität in den USA, Träger des Wirtschaftsnobelpreises seit 1998, ist einer der großen Theoretiker für Entwicklung und Gerechtigkeit. Auf seinen Vorarbeiten beruht der Entwicklungsindex der Vereinten Nationen.
„Gesellschaftlichen Wohlstand nicht allein am Wirtschaftswachstum zu messen, sondern immer auch an den Entwicklungsmöglichkeiten gerade für die Schwächsten, gehört zu seinen wichtigsten Forderungen“, schreibt der Stiftungsrat über den diesjährigen Friedenspreisträger. In den Büchern des Ökonomen nahm der Gedanke, dass das Bruttoinlandsprodukt in gewisser Weise blind sei, schon früh einen breiten Raum ein. Zwar sind Politik und Öffentlichkeit auch heute oft noch auf die fast magische Wachstumszahl und ihre gute oder schlechte Botschaft fixiert, doch bei Sen kann man nachlesen: Armut und Reichtum der Bürger hängen nicht alleine vom matriellen Niveau und Wirtschaftswachstum eines Landes ab. Denn dieser Blick ist zu eingeschränkt, vieles geht dabei verloren.
Ob Menschen sich entwickeln können, lässt sich nicht nur daran messen, welchen materiellen Wohlstand sie selbst oder die Gesellschaft zur Verfügung haben. Stattdessen, so Sen, geht es vor allem darum, wieviel konkrete Freiheit sie genießen, ihr Leben selbst zu gestalten. Dabei kann Freiheit zum einen die Abwesenheit von Not bedeuten. Eine gute Entwicklung nimmt ein Land in diesem Sinne, wenn beispielsweise ein Sozialsystem existiert, das grundsätzliche Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter auffängt. Andererseits sollte die Gesellschaft
alle Bürgerinnen und Bürger nach Kräften darin unterstützen, ihre jeweiligen Lebenschancen zu ergreifen und zu verbessern. Das bedeutet: keine Entwicklung ohne ein gutes Bildungssystem.
Das Nachdenken über die Bedeutung individueller Gestaltungsmöglichkeiten für die Verbesserung der Lebensqualität führte Sen zur Einschätzung der politischen Systeme. In seinem Buch „Armut und Hunger“von 1982 stellte er die These auf, dass demokratische Gesellschaften bessere Voraussetzungen bieten, um Hungersnöte zu vermeiden, als autoritäre Staaten. Seine Begründung: Partizipative Systeme räumen den meisten, im Idealfall allen Bürgerinnen und Bürgern politische und soziale Teilhaberechte ein, inklusive der Mittel, diese auch durchzusetzen. Die garantierten Rechte stehen somit nicht nur auf dem Papier, sondern spielen im öffentlichen Diskurs und politischen Prozess eine Rolle. Einfach gesagt: In Demokratien wie den Niederlanden, Schweden, Frankreich oder Deutschland kann und wird die politische Opposition so lange nerven, bis die Regierung allen Menschen das Existenzminimum sichert – wenngleich das praktisch nicht in jedem Einzelfall funktionieren mag.
Als Philosoph blickt Sen auch auf die ethischen Implikationen der Demokratie. Er weist dem Individuum nicht nur eine passive, sondern eine aktive Rolle zu. Die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten soll mit der Verantwortung für die Mitbürger einhergehen, der Bereitschaft, deren Interessen ebenso zu berücksichtigen. In einem Interview sagte Sen: „Wir müssen immer fragen: In welcher Welt leben wir gerade, was sind die anstehenden Probleme? Welche Wichtigkeit schreibe ich dem Wohlergehen anderer Menschen zu, welche Rolle spielt mein eigenes Wohlergehen?“
In den gegenwärtigen, aufgewühlten Zeiten mag es manchen Leuten komisch vorkommen, die Vorzüge der Demokratie derart zu betonen. Hat das autoritäre China die Corona-Epidemie im eigenen Land nicht erfolgreich niedergeschlagen, während die USA als einstiger Fixstern der Demokratie in massiven Schwierigkeiten stecken? Vielleicht hilft eine Betrachtung aus der Vogelperspektive: Tragen die hiesigen, oft als quälend, schmerzhaft und uneffektiv empfundenen Debatten über Masken, Reiseverbote, Sperrstunden, Flickenteppiche und Corona-Skeptiker nicht dazu bei, dass die schließlichen Lösungen möglichst viele Interessen einbeziehen und eine halbswegs akzeptable Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewährleisten?
Und dieser in Demokratien grundsätzlich mögliche Aushandlungsprozess kommt nie zum Ende. Weil sich die Lebensbedingungen und Bedürfnisse der Bürger ständig weiterentwickeln, müssen immer wieder neue Herausforderungen und Ansprüche berücksichtigt werden: gleichberechtigte Teilhabe von Frauen, neue geschlechtliche Orientierungen, Einwanderung, die Klimakrise.
Im von Amartya Sen mitentwickelten Entwicklungsindex der Vereinten Nationen spielen diese Dimensionen des gesellschaftlichen und individuellen Fortschritts keine ausdrückliche Rolle. Gesundheit, Bildung und Prokopfeinkommen sind dort die entscheidenden Messgrößen. Um die zukünftige Entwicklung beurteilen zu können, muss das Verfahren wohl bald erweitert werden.
Amartya Sen:
C.H. Beck Verlag München, 493 Seiten. 29,95 Euro.