„Wir können die Menschen in Syrien nicht verhungern lassen“
Caritas-international-Chef Oliver Müller über die Gefahren für Hilfsorganisationen und humanitäre Verantwortung
- Seit fast zehn Jahren herrscht in Syrien Krieg. Millionen Menschen sind deshalb auf humanitäre Hilfe angewiesen. Doch die Arbeit der Helfer ist schwer und gefährlich. Die Corona-Pandemie, der bevorstehende Winter und amerikanische Sanktionen verschärfen jetzt die ohnehin dramatische Situation. Caritas international-Chef Oliver Müller ist seit Ausbruch des Kriegs mehrfach in Syrien gewesen. Im Interview mit Philipp Hedemann spricht er über Erpressungsversuche des Assad-Regimes und warum die Caritas die Menschen in Syrien nicht im Stich lässt.
Herr Müller, wie ist die aktuelle humanitäre Lage in Syrien?
Dramatisch – und sie spitzt sich weiter zu. 6,6 Millionen Syrer sind Binnenvertriebene, also Flüchtlinge im eigenen Land. Rund 80 Prozent der Syrer leben unter der Armutsgrenze. Jede dritte Schule ist zerstört oder beschädigt. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung wohnt in Ruinen, Rohbauten oder anderen Notunterkünften, meist ohne fließend Wasser und Strom. Die Lebensmittelpreise haben sich innerhalb eines Jahres um 250 Prozent erhöht. All das verschärft die Not jeden Tag.
Wie steht es nach fast zehn Jahren Krieg um die Gesundheitsversorgung?
Die Hälfte aller Gesundheitseinrichtungen ist zerstört oder beschädigt. Seit Beginn des Krieges hat rund die Hälfte des medizinischen Personals Syrien verlassen. Als ich das letzte Mal in Damaskus war, sind mir die vielen Schilder von Arztpraxen aufgefallen. Aber die Ärzte sind einfach nicht mehr da. Ärztliche Dienstleistungen und selbst lebensrettende Operationen müssen meist sofort in bar bezahlt werden. Die meisten Syrerinnen und Syrer können sich seit Ausbruch des Krieges keine Gesundheitsversorgung mehr leisten.
Wie verschärft Corona die Not?
Die offiziellen Zahlen sind nicht besonders hoch, man muss allerdings davon ausgehen, dass die realen Zahlen viel, viel höher sind und das marode Gesundheitssystem überfordern. Nach nicht bestätigten Zahlen sterben alleine in Damaskus jeden Tag 150 Menschen an Corona. Unsere Partner vor Ort berichten uns von langen Schlangen vor den Krematorien und dass Corona-Patienten an Krankenhäusern abgegrund. wiesen werden. Die Menschen kaufen deshalb von ihrem letzten Geld auf dem Markt Sauerstofflaschen, um ihre Angehörigen zu Hause zu versorgen. Etliche unserer Mitarbeiter waren erkrankt, aber zum Glück ist keiner von ihnen an Corona gestorben.
Wie hilft Caritas international in Syrien?
Wir verteilen unter anderem Lebensmittel und Hygieneartikel, weil diese nicht mehr verfügbar oder nicht mehr bezahlbar sind. Vor dem Winter wird dies mit warmer Kleidung und Teppichen zur besseren Isolierung ergänzt. Außerdem unterstützen wir Kinder, die aufgrund des Krieges viel Unterricht verpasst haben, beim Lernen. Ergänzt werden diese Aktivitäten mit psychosozialen Angeboten, um vor allem Kinder, aber auch Frauen und Senioren bei der Bewältigung des Erlebten zu unterstützen. Zudem unterstützen wir Familien mit Geld oder Baumaterialien, damit sie sich für den Winter Wohnraum herrichten können.
Helfen Sie auch Menschen, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind?
Ja. Dabei stehen für uns marginalisierte Gruppen wie behinderte Menschen und Senioren im VorderMan geht davon aus, dass es in Syrien über 1,5 Millionen Menschen gibt, die eine bleibende Behinderung als direkte Folge des Krieges haben. Und jeden Tag werden es mehr, denn über drei Millionen Kinder sind Minen und nicht explodierter Munition ausgesetzt. Wir unterstützen besonders Bedürftige finanziell bei der medizinischen Versorgung. Dabei geht es oft um Fragen von Leben und Tod. Es ist jedes Mal wieder aufs Neue erschütternd, wenn wir Menschen, die unserer Hilfe dringend bedürften, abweisen müssen, weil uns schlicht und ergreifend die Mittel fehlen. Das macht die Arbeit für die Kolleginnen und Kollegen vor Ort extrem belastend.
Syrien ist das vierte Jahr in Folge das gefährlichste Land für humanitäre Helfer. Dort starben seit Jahresbeginn 20 Helfer. Wie gefährlich ist Ihre Arbeit?
Wenn humanitäre Helfer in Kriegsgebieten wie Syrien sterben, liegt es meistens daran, dass die Konfliktparteien die Neutralität der Helfer nicht respektieren, sie als interessengeleitete Eindringlinge sehen oder humanitäre Prinzipien wie das Recht auf die Versorgung mit Lebensmitteln schlicht nicht akzeptieren. Das passiert leider immer häufiger und macht unsere Arbeit in Syrien so gefährlich.
Was tun Sie, um Ihre Mitarbeiter zu schützen?
Wir versuchen die Sicherheit unserer Helfer durch Akzeptanz herzustellen. Unsere lokalen Kollegen, die mit ihrem eigenen Leben für die Hilfe einstehen, müssen deutlich machen, dass ihre Hilfe wirklich unabhängig ist. Wir sind nicht bewaffnet und wären ein weiches Ziel. Aber weil man uns abnimmt, dass wir nur humanitäre Ziel verfolgen – keine politischen, keine religiösen – haben wir eine Chance, auf beiden Seiten der Front zu arbeiten.
Die Hilfswerke der Vereinten Nationen dürfen in Syrien nur als Partner regimetreuer Organisationen arbeiten. Laut „Human Rights Watch“fließen auf solchen Wegen UN-Gelder in Millionenhöhe an Regimeangehörige. Ist Caritas international davon auch betroffen?
Die Auswahl der Begünstigten in unseren Projekten obliegt bisher allein uns und unserer Partnerorganisation. Das kann ich mit Sicherheit sagen. Wir entscheiden ausschließlich nach dem humanitären Prinzip der Bedürftigkeit. Wir können uns in unseren Projektgebieten frei bewegen, die Leute ungehindert fragen, wie es ihnen geht und uns so ein realistisches Bild der sozialen Lage machen – auch wenn die Regierung unsere Aktivitäten sicherlich beobachtet.
Könnte Hilfe nicht an Bedingungen geknüpft werden: Wir helfen nur, wenn wir überall helfen können?
Der Versuch der Politik durch Druck gegenüber der syrischen Regierung Veränderungen zu erreichen, war bislang leider nicht von Erfolg gekrönt. Die Hoffnung, durch weiteren Druck endlich verbesserten Zugang für humanitäre Hilfe zu erhalten, ist deshalb mehr als ungewiss. Das heißt, wir müssen mit den gegebenen Bedingungen arbeiten und versuchen unter diesen Umständen so gut wie eben möglich zu helfen.
Bereitet dieses moralische Dilemma Ihnen schlaflose Nächte?
Wir müssen helfen, obwohl Rechtlosigkeit, Menschenrechtsverletzungen und Gewalt herrschen. Aber mich bestärkt, dass ich zumindest für Caritas international sagen kann, dass die Hilfe tatsächlich ankommt und ich ausschließen kann, dass wir die syrische Regierung unterstützen. Aus eigener Anschauung weiß ich, dass wir unter sehr schwierigen Bedingungen extrem Bedürftigen helfen. Das ist doch schon mal einiges, auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass wir nur einen kleinen Teil der Menschen in Not erreichen können.
Entlassen Sie die syrische Regierung so nicht aus ihrer Verantwortung, sich um ihre eigene Bevölkerung zu kümmern?
Dieses Dilemma existiert leider. In Syrien haben wir es mit einem Staat zu tun, mit dem westliche Staaten aus nachvollziehbaren Gründen nicht zusammenarbeiten wollen. Und dennoch sehen wir es als humanitäre Organisation als unsere Pflicht an, die Not der Menschen in den Blick zu nehmen. Aus humanitärer Sicht müssen wir sagen: So wie jetzt, kann es nicht weitergehen. Wir können die Menschen in Syrien nicht verhungern lassen, wir können sie nicht an banalen, leicht zu behandelnden Krankheiten zugrunde gehen lassen, nur weil die politischen Verhältnisse so sind, wie sie sind! Als Hilfsorganisation müssen wir die humanitäre Situation von der politischen Situation trennen. Die politische Lösung des Konfliktes ist sehr schwierig und langwierig. Während daran gearbeitet wird, muss es humanitäre Hilfe geben.
Was kann Deutschland tun, damit Hilfsorganisationen in Syrien besser arbeiten können?
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich weiter für einen verbesserten humanitären Zugang einsetzt. Deutschland ist weltweit der zweitgrößte Geber humanitärer Hilfe, Deutschlands Stimme hat deshalb Gewicht.