Alles auf Rot
Der Staat legalisiert bislang verbotenes Online-Glücksspiel – Dies hat Folgen auch für analoge Spielbanken, die ihrerseits immer mehr auf Automaten setzen
LINDAU - Lindau, Insel, die Spielbank direkt am Bodensee, Freitag, 23 Uhr: Vorletzter Abend bis zum Lockdown, der auch die echten Casinos dichtmachen wird. Am Empfang bläst ein mittelgroßer Herr im schwarzen Anzug Trübsal in seine Gesichtsmaske. Gerade vorher sei noch ein bisschen was los gewesen, aber jetzt –„ganz ruhig“. „Nur die Schweizer halten weiter die Stellung“, sagt der freundliche Mann und händigt die Eintrittskarte aus. „Viel Vergnügen“, wünscht er. Eine breite Treppe mit glänzenden Handläufen führt in die erste Etage zu den sogenannten großen Spielen. Gemeint sind Roulette und Blackjack. Im Saal verlieren sich gerade mal ein knappes Dutzend Gäste. Jede Menge Platz für exorbitante Mindestabstände. Die gleiche Anzahl Personal hält hinter sich drehenden Roulettekesseln, von denen es drei gibt, die Stellung. Immer wieder klackert es vernehmlich, wenn die Kugel langsamer wird und schließlich ins Segment einer Zahl fällt. Der einzige Blackjack-Tisch ist nicht in Betrieb. Die Spieltische sind von Plexiglasscheiben umgeben und wirken wie Schalter beim Pfandleiher. Die Croupiers tragen schwarze Masken.
Ein bisschen abseits steht ein automatischer Roulette-Kessel, umgeben von Spielautomaten mit Monitoren, auf denen die Einsätze eingetippt werden können. Drei große Bildschirme strahlen das Geschehen am menschenlosen Kessel in den Saal. Irgendwo hustet ein Spieler bellend in seine Maske. Ein Bediensteter sprüht jetzt den Monitor eines Automaten mit Desinfektionsmittel ein und wienert ihn so gründlich, als handle es sich dabei um den Bleikristalltisch in seinem eigenen Wohnzimmer. Am Kassenschalter, wo Gäste ihr Bares in bunte Plastikjetons tauschen können, steht ein älterer Herr in kerzengrader Haltung. Über die Automaten, die es bislang nur unten im Kellergeschoss gegeben hat, sagt er: „Das war die erste Corona-Welle.“Man trage mit mehr Maschinen der Pandemie Rechnung. Mehr Geräte heißt weniger Menschenkontakt. „An Automaten kommen Sie einfach nicht mehr vorbei“, sagt er mit Schulterzucken und ein bisschen Resignation in der Stimme. Er sieht alt genug aus, um noch die richtig guten Zeiten der Spielbanken erlebt zu haben. Als es noch eine Krawattenpflicht gegeben hat. Heute geht es – um es freundlich zu sagen – recht leger zu. Im Baumarkt sind die Kunden auch nicht schlechter angezogen. Monte-Carlo-Feeling Fehlanzeige.
Dass Glücksspiel immer weniger mit menschlicher Interaktion und immer mehr mit Geräten zu tun hat, ist ein Trend, den es vor Corona schon gab – und der jetzt so richtig Fahrt aufzunehmen scheint. Denn der Spieltrieb lässt sich längst schon komplett online ausleben: zu Hause mit dem Rechner, dem Tablet oder von überall aus mit dem Smartphone. Solche Angebote gibt es schon sehr lange – nur waren sie fast überall in Deutschland illegal – und sind es noch. Nur haben sich Bund und Länder im neuen Glücksspielstaatsvertrag, der 2021 in Kraft tritt, darauf geeinigt, Anbieter solcher Spiele nicht mehr zu verfolgen, sofern sie sich an Regelungen halten, die im neuen Glücksspielstaatsvertrag gelten. Weisen sie das nach, können sie eine ordentliche Lizenz beantragen – und niemand fragt mehr nach dem jahrelangen ungesetzlichen Spielbetrieb. Ist diese Legalisierung durch die Hintertür nicht eine Bankrotterklärung gegenüber einer Branche, die von staatlicher Seite aus ohnehin nicht in den Griff zu bekommen ist, zumal die Anbieter ihren Sitz meist offshore in sogenannten Steuerparadiesen haben? Das badenWürttembergische Innenministerium schreibt dazu auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“: „Bei der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass ab Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrags 2021 diese Angebote erlaubnisfähig sein werden. Eine Untersagung kurz vorher könnte als unverhältnismäßig angesehen werden. Aus diesem Grund sollen sich die Aufsichten auf die Anbieter konzentrieren, die voraussichtlich nicht regulierungswillig sind.“Gefragt nach der Haltung von Innenminister Thomas Strobl (CDU), heißt es: „Am besten wäre es natürlich, wenn es keine illegalen Glücksspiele geben würde. Freilich haben viele Menschen offensichtlich das Bedürfnis, im Internet zu spielen. Der Kampf gegen das illegale Glücksspiel ist wie der Kampf gegen die sieben-köpfige Hydra – es kommen immer wieder neue Anbieter nach. Bei Abwägung aller Aspekte ist es wichtiger, dass die Spieler soweit wie möglich geschützt werden – deshalb stehen wir zum neuen Glücksspielstaatsvertrag.“Dass dieser offenbar nur bedingt jetzt schon vor Strafverfolgung schützt, zeigen die gerade eingeleiteten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt, die sich nach Recherchen von „Süddeutscher Zeitung“und NDR gegen unter anderen Tipico und die Lottoland-Gruppe richten.
Und welche Regeln stehen drin im neuen Staatsvertrag? Zum Beispiel darf das monatliche Limit für Einzahlungen zum Spielen pro Spieler und Online-Casino 1000 Euro nicht überschreiten. Durch den Umstand, dass es laut internationaler Verbände mindestens 2000 Anbieter gibt, bleibt da nicht genug Gelegenheit, sich als Spieler trotzdem zu ruinieren? Das soll durch die Verpflichtung verhindert werden, dass legale Glücksspielanbieter im Netz so vernetzt sind, dass die 1000 Euro Obergrenze insgesamt gilt. Eine weitere Forderung im Regelwerk ist der sogenannte Panik-Knopf. Drückt der Spieler diesen, sperrt er sich selbst für den Casino-Betrieb. Auch hier soll gelten, dass danach auch bei anderen Online-Spielbanken Schluss sein soll mit Zocken.
Der Deutsche Online CasinoVerband (DOCV) jedenfalls begrüßt die Übergangsregelung für virtuelle Automatenspiele. Er schreibt in einer Mitteilung: „Mit der erzielten Einigung der Bundesländer auf einen Übergangszeitraum ab dem 15.10.2020 bis zum Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrags stellen sich die Länder erstmalig der längst existierenden Realität und Lebenswirklichkeit der Menschen.“Dies sei ein entscheidender Schritt, um die Abwanderung der Verbraucher zu regulierungsunwilligen Schwarzanbietern einzudämmen. Allerdings kritisiert der Verband, dass es eine „unverhältnismäßig kurze Frist“zur Umsetzung der komplexen Detailanforderungen gebe – nämlich quasi von jetzt auf gleich.
Der Experte für Spielsucht, Sozialarbeiter Holger Urbainczyk aus Villingen-Schwenningen, hält die Legalisierung für „eine absolute Katastrophe“. Er arbeitet beim Baden-Württembergischen Landesverband für Prävention und Rehabilitation (BWLV) und hat täglich mit Klienten zu tun, deren Spielsucht sie buchstäblich ruiniert hat – finanziell und in fast allen anderen Lebensbereichen auch. Urbainczyk, der nicht so recht an die Wirksamkeit der gut gemeinten Regeln glauben kann, sagt: „Aus der Suchtperspektive gesehen, ist das verheerend – denn online locken faktisch höhere Gewinne und die Verluste können wesentlich höher sein als in normalen Spielhallen.“Dort sei das Personal zumindest geschult, zu erkennen, wenn jemand spielabhängig ist. Und es gebe das Gebot, so jemanden auch anzusprechen, sagt der Sozialarbeiter.
Ein weiterer Punkt ist für Urbainczyk, dass Hilfsangebote die Online-Spielsüchtigen nur sehr schwer und sehr spät erreichten. „Wir kommen an diese Leute meistens erst dann ran, wenn sie Haus und Hof bereits verspielt haben.“Die Beweggründe, das Spiel im virtuellen Raum zu legalisieren, kann er sich nur mit wirtschaftlichen Interessen erklären: „Dassteckt einfach ganz, ganz viel Geld drin“, sagt Urbainczyk und kritisiert, dass die Werbung für Glücksspielangebote erlaubt sei. „Der Ex-Torhüter Oliver Kahn darf sich hinstellen und sagen ,Ihre Wette in sicheren Händen’. Das ist das falsche Signal.“Ebenso wie Alkohol und Zigaretten gehöre die Werbung für Glücksspiel verboten oder zumindest stark eingeschränkt.
Wie will die Politik den Schutz der Spieler vor dem Ruin in der Praxis sicherstellen? Dazu teilt das Innenministerium mit: „Durch den Glücksspielstaatsvertrag 2021 werden vor allem für das Internet spielerschützende Maßnahmen vorgesehen, die der Anbieter implementieren muss.“Dazu zähle, dass jeder Anbieter ein automatisiertes System zur Früherkennung von glücksspielsuchtgefährdeten Spielern einsetzen müsse. Und, wie oben bereits erwähnt: „Die Anbieter müssen sich an das anbieter- und spielformübergreifende Spielersperrsystem anschließen und sind verpflichtet, vor Spielbeginn einen Abgleich mit diesem zu machen.“Ähnlich wie das bei echten Spielbanken eines Bundeslandes untereinander üblich ist.
Apropos reale Spielbanken mit echten Menschen als Croupiers: Wie sehen die den neuen Glücksspielstaatsvertrag? Die Haltung ist weniger ablehnend, als es zu vermuten wäre – denn tendenziell steht das Online-Angebot in Konkurrenz zu niedergelassenen Spielbanken. Otto Wulferding, Vorsitzender des Deutschen Spielbankenverbands (DSBV), teilt auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit: „Der Spielbankenverband begrüßt, dass der Gesetzgeber eine grundsätzliche Position für das Glücksspiel anstrebt, die der digitalen Transformation Rechnung trägt. Wenn der neue Glücksspielstaatsvertrag 2021 in Kraft tritt, die geplante Glücksspielbehörde, das Einzahlungslimit von 1000 Euro pro Monat und eine spielerübergreifende Datei eingerichtet sind, dann existiert ein Rechtsrahmen. Bisher führten föderale Sonderwege zu einer uneinheitlichen Rechtslage. Sie verunsicherte Spielende, die nicht wussten, was ist erlaubt, was nicht. Das Rechtsbewusstsein erodierte.“
Für den Spielbankenverband ist das Spielerlebnis in realen Casinos nicht mit dem Glücksspiel im Netz vergleichbar. Wulferding schreibt dazu: „Das Spiel in der Spielbank findet nicht in 17-Zoll statt. Wer Casino live erleben will, wählt das Spiel in gehobenem Ambiente, zusammen mit anderen. Das Glücksspiel in Spielbanken ist etwas ganz anderes.“Spielen in diesem Umfeld fühle sich gut an, Spieler fühlten sich wohl und sicher. „Denn die Spielbanken nehmen die Auflagen des Staates ernst. Spielerund Verbraucherschutz, Jugendschutz, Sicherheit des Geldverkehrs – jedes davon ist in der Spielbank eine sichere Sache.“
Tatsächlich befanden sich die stationären Spielbanken nach harten Jahren der Umstrukturierung gemäß Verband im Aufwind: 2019 lag der Bruttospielertrag in staatlich konzessionierten Spielbanken bei rund 860 Millionen Euro – ein Viertel über dem Niveau des Jahres 2018. Der Bruttospielertrag entspricht betriebswirtschaftlich betrachtet in etwa dem Umsatz eines Unternehmens. Doch mit diesem Trend dürfte seit Corona Schluss sein, denn: „In Deutschland führte (und führt) die Pandemie dazu, dass die Spielbanken wie andere Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens geschlossen wurden (und werden). Allein für die Spielbanken in Baden-Württemberg bedeutet das für die Zeit bis zum Beginn des zweiten Lockdowns ein Drittel weniger Bruttospielertrag.
Wie sich wenig Bruttospielertrag kurz vor dieser Schließung anfühlt, wird auch im Untergeschoss der Lindauer Spielbank klar, wo die Automaten ihre aufgeregte Akustik den sehr wenigen Spielern um die Ohren hauen, die davorsitzen. Ein Mann an einem Gerät tippt unablässig auf einen blinkenden Knopf, sodass bald die ungestellte Frage im Raum steht, wer hier eigentlich mit wem spielt: der Mensch mit der Maschine oder die Maschine mit dem Menschen?
Die Laune des freundlichen Herrn am Empfang hat sich nicht wesentlich gebessert. Wenn er am frühen Morgen Feierabend machen wird, ist fast schon wieder Lockdown. Tatsächlich stehen jetzt, in dieser merkwürdigen Zeit, die uns alle nach dem ersten Herunterfahren im Frühling wieder ausbremst, oben bei den großen Spielen die Kessel still. Die Kasse ist zu, der Herr dahinter in seiner penibelgeraden Körperhaltung wahrscheinlich in Kurzarbeit. Das aufgeregte Blinken und Flöten der Automaten ist verstummt. Für mindestens bis Dezember. Profitieren werden die Online-Casinos. Spiele von Mensch zu Computer. Im bunten, virtuellen Raum, wo es keine Mindestabstände braucht und keine Maskenpflicht gibt, weil die Viren im Netz nicht Corona heißen. Und wo keine Kleiderordnung die Spieler dazu zwingt, auch nur eine Unterhose anzuziehen.
„Wir kommen an diese Leute meistens erst dann ran, wenn sie Haus und Hof bereits verspielt haben.“
Holger Urbainczyk, Experte für Spielsucht „Wer Casino live erleben will, wählt das Spiel in gehobenem Ambiente, zusammen mit anderen.“
Otto Wulferding, Vorsitzender des Deutschen Spielbankenverbands