Höher wohnen
Alle wollen hoch hinaus: Der Preis für das beste Hochhaus sichtet die Welt der Türme
New York 1983: Der Trump-Tower ist gerade eröffnet. Der begnadete Reporter Carlos Widmann bringt dort einen Vormittag in der Lobby zu. Er beobachtet Besucher, die aus dem mittleren Westen angereist sind – eine Konstellation wie im Kinderbuch von der Landmaus und der Stadtmaus. Kaum sind die Landmäuse in die Lobby eingetreten, halten sie inne, breiten die Arme aus und rufen, geblendet vom Sammelsurium der Gold-, Bronzeund Messingtöne: Oh! Jesus Christ!
Trump und sein Tower waren damals einem Trend voraus, der weltweit in Metropolen zu beobachten ist. Hochhäuser, die Wohnungen bereitstellen, nehmen zu, auch wenn sie, gemessen am globalen Bau-Aufkommen, nur eine Minderheit unter den neuen Wolkenkratzern sind. Nach wie vor wachsen die meisten in China in den Himmel und bieten Büroflächen an. Der Internationale Hochhaus Preis, den das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Deutschlands Hochhaus-Metropole Frankfurt zusammen mit der Stadt und der Hessischen Landesbank ausrichtet, ging schon in den letzten zehn Jahren häufig an Wohntürme: in Mexiko, in New York, in Sydney. Oder wie 2014 an solche Häuser, die nicht nur hoch, sondern auch noch begrünt sind, wie jene als „Bosco Verticale“berühmt gewordenen Türme in Mailand. Hier wachsen Bäume auf Balkonen.
Ein Hochhaus beginnt nach Definition bei 100 Metern Höhe. Und in diesem Jahr haben es gleich zwei reine Wohntürme in die engere Wahl geschafft. Weitere befinden sich unter den insgesamt 30 Kandidaten der Auswahl: In Taiwan ist ein Bosco-Verticale-Nachfolger entstanden. In Chicago steht, mit viel Grün nicht am, aber vor dem Haus, das mit 274 Metern höchste unter diesen Wohnhochhäusern. Es sieht aus wie der kleine Bruder des Sears-Tower, jener Architektur-Ikone, die Chicagos Skyline dominiert. Und in San Francisco ist, ebenfalls in einem neuen Hochhausviertel, ein Block entstanden, dessen raffiniert verschoben wirkende Fassade möglichst vielen Wohnungen einen schönen Ausblick auf die Bucht und die Bay-Bridge bieten will. Es hat sogar eine soziale Ader: 40 Prozent der Wohnungen werden unter der ortsüblichen Miete angeboten. Dieses Projekt hat, nicht nur der Höhe von 122 Metern wegen, Ähnlichkeit mit dem Wettbewerbssieger dieses Jahres.
Der Gewinner, zwei leicht variierte Türme nebeneinander, steht in Stockholm und hat in seinem Heimatland schon einen Architekturpreis verliehen bekommen: Der wird für das hässlichste Bauwerk des Jahres vergeben. Die Doppeltürme zeigen eine neue Anwendung der alten PlattenbauTechnik. Vorgefertigte Wohnmodule aus Beton werden an der Baustelle aufeinander gestapelt, was in Skandinavien den Vorteil hat, dass selbst bei Wintertemperaturen, bei denen Beton nicht mehr zu verarbeiten ist, das Gebäude weiterwachsen kann.
Womit die Norra Tornen, also nördliche Türme genannten Häuser ebenso überzeugen können, ist ihre städtebauliche Einbindung. Sie markieren den Zugang zur inneren City, zunächst zu einem Stadtteil, dessen fünfstöckige Wohnhäuser aus den 1930er-Jahren stammen. Sie korrespondieren in der Farbigkeit mit den dunkelroten und braunen Tönen des Quartiers. Und im Rücken von Norra Tornen verläuft untertunnelt der Ringverkehr von Autobahn und Zug. Hier entsteht ein neuer Stadtteil, der kleinere, eng stehende mittelhohe Blöcke und neue Arbeitsplätze bietet.
Der Begriff „Plattenbau“lockt natürlich wenig Begeisterung hervor. Solche Siedlungen sind in den 60erund 70er-Jahren entstanden, verbunden mit einem Fortschrittsoptimismus, der, je nach Gesellschaftsform auch die wackeren, alle Pläne übererfüllenden Baubrigaden bejubelte. Heute hören diese Produkte, wenn sie nicht abgerissen sind, oft auf den Namen Problemquartier. Auch die Begeisterung für Beton als rohem, aber wahren Baustoff ist inzwischen merklich gebremst. Das DAM hat in diesem Jahr der „Baumonster“des Brutalismus mit einer Ausstellung gedacht und sie auf die Rote Liste der bedrohten Arten gesetzt. Auch Norra Tornen hat diese Gene.
Denn Architekt Reinier de Graaf vom Office of Metropolitan Architecture in Rotterdam hat konzeptionelle Anleihen bei den Großprojekten des Architekten Moshe Safdie gemacht, der zur Expo 1967 in Montreal entlang des Hafens eine ganze Stadtlandschaft aus Betonkuben zusammengewürfelt hat.
Das Projekt in Schweden hat allerdings einen anderen Feinschliff. Jede Wohnung bietet einen Balkon und ein Panoramafenster, dazu einen hellen, sachlichen Innenausbau, wie er in der schwedischen Gesellschaft eine breite Basis hat. Besonderen Wert wurde auf den Beton gelegt, der mit feinen Einschnitten strukturiert ist und dessen polierte Oberfläche eher nach Terrazzo aussieht. Er verleiht dem Haus einen Farbton, als würde es von einer milden Herbstsonne beschienen.
So ist Norra Tornen ein „Plattenbau für Reiche“geworden, wie de Graaf sagt. 88 Quadratmeter im 23. Stock - das Haus hat 36 - kosten etwas mehr als eine Million Euro. Im Schnitt liegt der Quadratmeterpreis bei elf bis zwölftausend Euro. Nach unten wird es billiger, nach oben sprunghaft teurer.
Alles in allem ein Schnäppchen gegenüber dem zweiten Wohnturm, der beim Hochhauspreis ebenfalls in der engeren Wahl war. Er kommt vom, dem Luxuriösen zugeneigten Heatherwick Studio in London und steht in Singapur. Der Turm ist umgeben von Balkonen, die wirken wie umgebundene Büstenhalter, prall gefüllt mit exotischem Grünzeug. Vermarktet wird das urbane Dschungelparadies unter dem Titel „Eden“. Pro Etage gibt es nur ein Appartement, und das hat 220 Quadratmeter.
Eines der Hochhäuser mit der ganz konventionellen Büroflächen-Nutzung und dem Standort China hat es in der Auswahl für den Architekturpreis ebenfalls unter die ersten fünf geschafft. Ansonsten ist aber nichts konventionell an diesem Gebäude, im Gegenteil: Alles ist spektakulär. Es kommt aus dem Büro der verstorbenen Architektin Zaha Hadid und ihrem elaborierten Planungscomputer: ein Doppelturm in einer Hülle. Ein Bau-Typ, in dem auch die Europäische Zentralbank in Frankfurt residiert. Aber in Peking sieht das nicht zackig aus wie ein Kristall, sondern glatt wie ein Zäpfchen. Beeindruckend der Innenraum: Die beiden Türme im Turm sind gekurvt wie die Knethaken von Mutters Mixer. Das Atrium dazwischen reicht vom Boden bis zur Decke. Mit 200 Metern ist es die höchste Lobby der Welt. Eine Jurorin beschreibt ihren Eindruck mit den Worten: „Mir wachsen Flügel. Ich hebe ab.“Da ist er also wieder, der „Oh Jesus Christ“-Effekt.
DAM-Direktor Peter Cachola Schmal bleibt am Boden, er spricht von „räumlicher Überwältigung“. Oberschwaben kann gratulieren. Worauf seine barocken Kirchen und Klöster zielten, Architektur als Gefühlsattacke einzusetzen, kommt nun, nachhaltig bereichert um Grauwasserspülung und Wärmerückgewinnung, in Chinas Hauptstadt an.
Peter Körner / Stefanie Lampe / Jonas Malzahn / Peter Cachola Schmal (Hg.), Jovis Verlag, 34 Euro.