Sechs Jahre Haft für Messerstecher
Gericht geht im Nachbarschaftsstreit nicht von versuchtem Mord, sondern versuchter Tötung aus
- Die 1. Große Schwurgerichtskammer des Landgerichts Rottweil hat den Mann aus Trossingen, der seinen Wohnungsnachbarn durch Messerstiche beinahe tödlich verletzt hätte, am Mittwoch wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die Staatsanwältin hatte sieben Jahre wegen versuchten Mordes gefordert, während die beiden Verteidiger auf gefährliche Körperverletzung und „ein mildes Urteil“plädierten.
„Der Angeklagte führte ein unfrohes Leben, sein einziger Anspruch an sein Leben war eine ruhige Wohnung“, erklärte Karlheinz Münzer, der Vorsitzende Richter, in seiner Urteilsbegründung. Doch genau die hatte der 55-Jährige nicht. Sein Nachbar, mit dem er Wand an Wand wohnte, machte ihm das Leben durch andauernde Ruhestörungen über Jahre hinweg zur Hölle. So kam es am späten Nachmittag des 1. Mai dieses Jahres zur Tat. Miriam Glunz, die Staatsanwältin, nannte es versuchten Mord, weil der Täter im Flur des Mehrfamilienhauses mit Messer in der Hand auf den arglosen Nachbarn gewartet habe, bei dessen Erscheinen die Tür aufgerissen und ihm dann das Messer in den Oberarm und den Bauch gerammt habe. Damit sei das Mordmerkmal Heimtücke erfüllt, so die Anklägerin.
Dem widersprachen die Verteidiger Natalie Kaiser und Matthias Obermüller (beide Tübingen). Sie beriefen sich auf ihren Mandanten, der in seinem umfassenden Geständnis beteuert hatte, er habe dem Nachbarn nur drohen wollen, dann aber sei der auf ihn zugestürmt in der Absicht zuzuschlagen. So sei es zum Messerstich gekommen; es habe nur einen gegeben, hatte der Täter betont. Als „unbrauchbar“bezeichneten die Verteidiger die Version des 59-jährigen Opfers, der unter anderem erklärt hatte, der Kontrahent sei plötzlich „wie ein Löwe“auf ihn zugesprungen.
Der Angeklagte nutzte die Gelegenheit zum „letzten Wort“vor dem Urteil und bekräftigte, die Tat tue ihm leid, er habe das alles „nicht gewollt“. Vor allem aber betonte er in seiner ruhigen Art: „Der hat gesehen, dass ich dastand. Das war nicht heimtückisch“. Und es wäre „ungerecht“zu behaupten, dass es zwei Stiche gewesen seien. „Es war nur ein Stich.“Das hatten allerdings am Vortag sowohl die medizinische Gutachterin als auch eine nachträglich hinzugezogene Textil-Gutachterin so gut wie ausgeschlossen, wenn auch nicht mit allerletzter Sicherheit.
Richter Münzer bedauerte in seiner Urteilsbegründung, dass die Aussagen des Opfers kaum verwertbar gewesen seien. Er habe zwar guten Willen gezeigt, aber „die Qualität“habe aufgrund persönlicher Umstände nicht ausgereicht. Trotzdem kam das Gericht zu einem klaren Urteil. Der Täter habe über Jahre hinweg nichts unversucht gelassen, um die belastende Situation zu ändern: Gespräche mit den Ruhestörern, Drohungen, Benachrichtigen der Polizei, eine „lange und zwanghafte“, aber vergebliche Suche nach einer neuen Wohnung. Am Ende sei er zermürbt gewesen, habe sich ohnmächtig gefühlt und immer mehr den Plan verfolgt, den Ruhestörer mit Hilfe eines Messers mundtot zu machen. Das habe er nicht nur bei mehreren Gelegenheiten offen angekündigt, sondern sich auch im Internet über Möglichkeiten und etwaige Folgen informiert.
Das Gericht hielt die Version des Angeklagten, sein Kontrahent habe ihn angegriffen, für unglaubwürdig, denn er selber sei ja mit dem Messer dagestanden, und der Kontrahent sei auch noch körperlich und aufgrund diverser Krankheiten unterlegen gewesen. Zudem ging die Strafkammer nicht nur wegen der Gutachten von zwei Stichen aus, sondern auch wegen des „Verletzungsbildes“. Das Mordmerkmal Heimtücke aber sei nicht nachweisbar, weil der 59-Jährige nach diversen Angriffen und konkreten Drohungen des Täters mit einer Messerattacke habe rechnen müssen. Der Täter hatte während des Prozesses erklärt, Gefängnis könne nicht schlimmer sein als das, was er in seiner Wohnung erlebt hatte. „Da täuschen Sie sich. Im Gefängnis wird es sicher nicht ruhiger zugehen“, sagte Richter Münzer.