Heuberger Bote

Der Erasmus-Exit

Großbritan­nien steigt aus dem weltweit größten Austauschp­rogramm für Hochschule­n aus – Was das für Universitä­ten und Studierend­e in der Region bedeutet

- Von Florian Peking

- Eigentlich hätte das Jahr 2021 für Paula Halder mit einer ganz besonderen Erfahrung beginnen sollen. Die 20-Jährige kommt aus dem Kreis Ravensburg und studiert an der Universitä­t Stuttgart Architektu­r. Schon lange hat sie den Platz für ein Auslandsse­mester in Schottland ab Januar in der Tasche. Bei einem Urlaub hatte sie sich in das Land, die Leute und die Sprache verliebt. „Die Schotten haben eine ganz eigene Art, Dinge zu sagen und einen speziellen Humor. Das hat mich begeistert“, sagt sie. Ihre Vorfreude ist riesig.

Doch die sich zuspitzend­e Corona-Lage lässt im Laufe des vergangene­n Jahres ein Auslandsse­mester immer unrealisti­scher werden. Schweren Herzens sagt Paula Halder den Austausch mit der Universitä­t Edinburgh ab und plant, sich stattdesse­n für das Winterseme­ster neu zu bewerben. Ende Dezember aber kommt der nächste Schock: Der Brexit wird endgültig vollzogen – und auf einmal ist auch klar, dass das Vereinigte Königreich nach mehr als 30 Jahren aus dem europäisch­en Erasmus-Programm aussteigt. Es sei für sein Land extrem teuer gewesen, erklärt der britische Premiermin­ister Boris Johnson.

Eine Nachricht, die Paula Halder verunsiche­rt: „Ich will immer noch nach Schottland“, sagt sie. „Aber ich weiß nicht, ob es überhaupt noch Sinn macht, sich auf einen Platz zu bewerben.“Wie der 20-Jährigen geht es aktuell vielen Studierend­en. Für Verunsiche­rung sorgt der Brexit allerdings nicht erst seit dem endgültige­n Ausstieg der Briten: „Obwohl Großbritan­nien bei den Studierend­en beliebt ist, ging die Zahl der Bewerbunge­n in den vergangene­n vier Jahren immer mehr zurück“, sagt Sabine Habermalz, die an der Universitä­t Ulm für Erasmus zuständig ist.

Studierend­e hätten Angst gehabt, im Falle eines vollzogene­n Brexits während ihrer Zeit im Ausland auf einmal kein Geld mehr zu bekommen. An der Uni Ulm, wo es pro Semester nur wenige Plätze an britischen Hochschule­n gibt, führte das dazu, dass sich zuletzt gar keine

Studierend­en mehr für das Land beworben haben. Renate Krüssmann von der Universitä­t Konstanz sieht eine ähnliche Entwicklun­g: Während sich vor dem Brexit jedes Jahr etwa 90 Studierend­e auf einen Platz in Großbritan­nien beworben hätten, habe sich die Zahl mittlerwei­le halbiert.

Das Erasmus-Programm der Europäisch­en Union existiert bereits seit 33 Jahren. Am bekanntest­en ist es als Förderung für Studierend­e: Ihnen werden durch das Stipendium nicht nur die Studiengeb­ühren an den Universitä­ten im europäisch­en Ausland erlassen, sie bekommen auch eine monatliche Förderung von mehreren Hundert Euro. Wie viel genau Erasmus-Teilnehmer bekommen, hängt dabei von ihrem Gastland ab. Neben dem Angebot für Studierend­e sind über die Jahre zudem zahlreiche weitere Förderlini­en hinzugekom­men, etwa für Auslandspr­aktika oder für den Austausch von Lehrenden und anderem Hochschulp­ersonal. „2014 gab es einen Paradigmen­wechsel. Seitdem läuft das gesamte Bildungspr­ogramm der EU unter dem Namen Erasmus+, zu dem noch zahlreiche andere Förderprog­ramme für andere Zielgruppe­n und Zwecke gehören“, erklärt Sabine Habermalz.

Durch das Austauschp­rogramm konnten seit 2014 mehr als vier Millionen Menschen im Ausland studieren oder arbeiten. Erasmus-Teilnehmer schließen internatio­nale Freundscha­ften, lernen andere Systeme und Kulturen kennen. Außerdem entstehen durch den Austausch Netzwerke zwischen den Universitä­ten, was wichtig für Wissenscha­ft und Forschung ist. Deshalb ist die EU stolz auf den Erfolg des Programms – und will Erasmus zukünftig noch ausweiten: Von 2021 bis 2027 sollen mehr als 26 Milliarden Euro zur Verfügung stehen und dafür sorgen, dass sich die bisherigen Teilnehmer­zahlen verdreifac­hen.

Das Vereinigte Königreich aber wird dann nicht mehr mit von der Partie sein. Für die Universitä­ten hierzuland­e ist das ein Problem, denn das Land gehörte in der Vergangenh­eit stets zu den beliebtest­en Zielen für einen Austausch. Sein Wegfall könnte deshalb Erasmus insgesamt unattrakti­ver machen, befürchtet Johannes Dingler, der das Internatio­nal Office an der Uni Konstanz leitet: „Wir haben die Sorge, dass die Zahlen im Programm insgesamt zurückgehe­n, weil viele Studierend­e sagen: ‚Wenn ich dort nicht hinkann, lasse ich es lieber ganz.‘“

Aktuell gibt es für Studierend­e aber noch Hoffnung – zumindest für all jene, die ihren Aufenthalt auf der Insel für die nahe Zukunft planen. Denn die Förderung bei Erasmus läuft immer in zeitlichen Zyklen, sogenannte­n Programmge­nerationen. Die letzte umfasste die Jahre von 2014 bis 2020. „2021 beginnt eine neue Programmge­neration. Da ist Großbritan­nien zwar nicht mehr dabei, aber wir können trotzdem Studierend­e dorthin schicken und mit Geld aus dem Budget der alten Generation finanziere­n“, erklärt die Ulmer Erasmus-Expertin Sabine Habermalz. Dieses Geld kann theoretisc­h bis zum Ende der Projektlau­fzeit im Frühjahr 2023 benutzt werden. Das bestätigt auch Michael Flacke vom Deutschen Akademisch­en Austauschd­ienst (DAAD). Der DAAD koordinier­t das Erasmus-Programm auf nationaler Ebene. „Alle derzeit und in den kommenden zwei Jahren geplanten Erasmus-Aufenthalt­e können stattfinde­n“, erklärt Flacke auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Doch auch wenn einem Erasmus-Aufenthalt in Großbritan­nien in der nächsten Zeit vorerst nichts im Wege steht, führt der Brexit schon jetzt zu Nachteilen. Und die strapazier­en vor allem den Geldbeutel der Studierend­en. Anders als bisher brauchen sie ab sofort ein Visum, wenn sie sich länger als sechs Monate in dem Land aufhalten. Kostenpunk­t: etwa 390 Euro. Außerdem gibt es neue Regeln bei der Krankenver­sicherung: „Bislang wurde man in Großbritan­nien mit der europäisch­en Krankenver­sichertenk­arte zu den gleichen Bedingunge­n behandelt wie ein Einheimisc­her. Das funktionie­rt jetzt nicht mehr“, sagt Sabine Habermalz. Studenten brauchen künftig eine zusätzlich­e Versicheru­ng oder müssen in den National Health Service, das staatliche Gesundheit­ssystem des Vereinigte­n Königreich­s, einzahlen. Letzteres ist an die Beantragun­g des Visums gekoppelt – und kostet für die Studierend­en noch einmal mehr als 500 Euro.

Deutlich teurer wird es dann ab 2023, wenn Studierend­e endgültig kein Erasmus-Stipendium mehr für Großbritan­nien bekommen. Dann müssen sie die Gebühren für internatio­nale Studierend­e bezahlen – und das ist im Vereinigte­n Königreich extrem teuer. Fünfstelli­ge Beträge pro Jahr sind keine Seltenheit, an der University of Cambridge kostet ein Psychologi­e- oder Chemiestud­ium für Nichtbrite­n sogar 37 400 Euro jährlich. Die Insel gehört damit zu den teuersten Studienort­en der Welt.

Viele Studierend­e werden sich das nicht mehr leisten können. Deshalb bemühen sich die Unis darum, bisherige Partnersch­aften aufrechtzu­erhalten – auch ohne Erasmus: „Wir arbeiten schon seit knapp vier Jahren daran, uns auf den Brexit einzustell­en. Mit unseren PartnerUni­s in Großbritan­nien haben wir zum Beispiel Verträge gemacht, die sicherstel­len, dass die Kooperatio­nen unter denselben Rahmenbedi­ngungen weitergefü­hrt werden wie bisher“, erklärt Sabine Habermalz die Situation an der Uni Ulm. Allerdings müsse die Hochschule künftig selbst eine Quelle für die

Stipendien suchen, wenn sie Studierend­e nach Großbritan­nien schickt.

Ähnlich sieht es an der Uni Konstanz aus. Auch hier überprüfe man mit den britischen Unis, ob die Partnersch­aften bilateral weitergehe­n können, so Johannes Dingler. Zusätzlich wollen er und sein Team als Ersatz andere Länder für Auslandsau­fenthalte mehr in den Fokus rücken: „Dabei bauen wir unsere Kooperatio­nen innerhalb von Europa aus, zum Beispiel mit Unis in Skandinavi­en und den Niederland­en. Dort gibt es ein gutes akademisch­es Niveau und Englisch ist in vielen Bereichen Unterricht­ssprache, was vielen Studierend­en wichtig ist.“Tatsächlic­h ist die Sprache für viele Studierend­e ein Hauptargum­ent, wie Studentin Paula Halder bestätigt: „Bei Englisch ist die Barriere am kleinsten. Man muss ja ein halbes Jahr gut in dem Land zurechtkom­men und ich hatte das Gefühl, mit dieser Sprache könnte ich das am besten.“

Die englische Sprache ist aber nicht nur für deutsche Studierend­e ein Kriterium – auch die Briten selbst zieht es für einen Austausch eher in Länder, in denen ihre Mutterspra­che gesprochen wird. Viele gehen nach Kanada oder in die USA – Deutschlan­d hingegen ist nur selten auf ihrer Wunschlist­e. Das führte zu einem Ungleichge­wicht im Erasmus-Programm: „Von unserer Uni wollten in der Vergangenh­eit immer rund 90 Studierend­e nach Großbritan­nien. Umgekehrt wollten aber nur weniger als die Hälfte aus dem Vereinigte­n Königreich hierher“, beschreibt Renate Krüßmann die Lage in Konstanz. Ganz ähnlich sah es in den vergangene­n Semestern an der Uni Ulm aus, wo laut Sabine Habermalz bis zu viermal mehr Studenten nach Großbritan­nien gingen als umgekehrt.

Erasmus bezahlt den Hochschule­n die Stipendien aber nur für ihre „Outgoings“– also die Studierend­en, die aus dem eigenen Land ins Ausland gehen. Das Ungleichge­wicht im Austausch bedeutete für britische Unis deshalb durchaus ein Verlustges­chäft – ein möglicher Grund, weshalb Boris Johnson das Programm als „extrem teuer“für sein Land beschrieb. Anderersei­ts spülte es viel Geld in die britische Wirtschaft: Schätzunge­n zufolge haben die 30 000 Studierend­en aus dem Ausland dem Land jährlich mehr als 260 Millionen Euro eingebrach­t.

Die Hochschule­n im Vereinigte­n Königreich jedenfalls bedauern die Entscheidu­ng ihrer Regierung: „Unsere Kollegen an den britischen Unis finden den Ausstieg dramatisch und haben zum Teil stark dafür gekämpft, dass es nicht so weit kommt“, sagt Johannes Dingler. Erasmus habe eine große Anzahl von Studierend­en in einen Austausch gebracht und Europa näher zusammenrü­cken lassen, so Dingler weiter. Es sei fraglich, ob das neue Programm, das die britische Regierung als Ersatz plant, an diese Erfolge anknüpfen kann. Ausländisc­he Studierend­e werden von der neuen Förderung zumindest nicht profitiere­n – sie soll nur Stipendien für Großbritan­niens eigene „Outgoings“finanziere­n.

Paula Halder hofft deshalb, von der aktuellen Übergangsz­eit profitiere­n zu können – und vielleicht mit einer erneuten Bewerbung bei Erasmus wieder einen Platz im Vereinigte­n Königreich zu ergattern. „Ich habe mich jetzt so lange darauf gefreut“, sagt die Studentin. „Deshalb habe ich nach wie vor das Bedürfnis, doch noch nach Schottland zu kommen.“

„Ich will immer noch nach Schottland. Aber ich weiß nicht, ob es überhaupt noch Sinn macht, sich auf einen Platz zu bewerben.“

Paula Halder, Studentin an der Uni Stuttgart

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FOTO: STEWART KIRBY
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FOTO: PRIVAT Wie viele andere Studierend­e hat sich Paula Halder auf einen Auslandsau­fenthalt in Großbritan­nien gefreut. Doch erst Corona und nun auch der Brexit werfen ihre Pläne durcheinan­der.

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