„Diskrepanz zwischen den Kindern wächst“
Schulsozialarbeiter Ingo Brehm wirft Blick auf die vergangenen Jahre - Zwei neue Kolleginnen auf dem Heuberg
- Seit 17 Jahren ist Ingo Brehm Schulsozialarbeiter auf dem Heuberg und kümmert sich um mehrere Schulen, auf die sich rund 1500 Schülerinnen und Schüler verteilen. Er ist Ansprechpartner für alle, die mit Schule zu tun haben, gibt in vielen Klassen einmal pro Woche Unterricht mit den Schwerpunkten Soziales Lernen, Selbstbewusstsein und Klassenzusammenhalt, bietet Einzelfallhilfe an und ist über sein Diensthandy fast immer erreichbar. 2020 hat er Verstärkung erhalten.
Die neue Stelle teilen sich seit Ende des Jahres Yvonne Kalmbach und Carmen Haischer zu jeweils 50 Prozent. Brehm war auf den Gosheimer Gemeinderat zugegangen und hatte um Unterstützung gebeten. Denn in den vergangenen Jahren habe er sich mehr und mehr wie ein Feuerwehrmann gefühlt. „Ich bin da, wenn es brennt, aber ich habe keine Zeit für den Wiederaufbau.“
Im Gespräch mit unserer Zeitung schildern Kalmbach und Haischer ihren Start auf dem Heuberg, welche Rolle Corona dabei spielt und Brehm berichtet, welche Veränderungen er in den vergangenen Jahren beobachtet hat.
„Die Kinder bringen teilweise sehr wenig von zuhause mit, und die Diskrepanz zwischen den einzelnen Kindern wird immer größer“, sagt Brehm. „Wenn ich die Elternschaft anschaue, dann gibt es immer noch viele, die ihre Kinder mit gesundem Menschenverstand erziehen, aber es werden weniger.“Teilweise fehle die Zeit, sich adäquat um die Kinder zu kümmern, teilweise sei genau das Gegenteil der Fall, die Eltern räumten den Kindern alle Schwierigkeiten aus dem Weg. Grundkompetenzen, wie ruhig zu sein, sich zu konzentrieren oder selbständig zu agieren, würden immer häufiger nicht mehr innerhalb der Familie vermittelt, sondern an Insitutionen wie die Schule ausgelagert.
Die sprachlichen Defizite würden größer. Vor 17 Jahren hätten die Jugendlichen problemlos Bewerbungen
schreiben können. „90 Prozent kam von ihnen, die restlichen zehn Prozent von mir“, sagt er. Heute sei es bei einigen genau umgekehrt. Es mangle an Rechtschreibung und der Fähigkeit zu formulieren.
Ein anderes Thema, das Brehm Sorge bereitet, ist der Medienkonsum. Viele Kids und Jugendliche seien im Internet grenzenlos unterwegs. Auch das Cyber-Mobbing habe über die Jahre zugenomen. „In Whats-App-Gruppen mobbt es sich sehr schnell.“Und bereits viele Erstklässler besäßen ein Handy. „Früher war das Mobbing zu Ende, wenn die Schule zu Ende war. Heute wird kräftig weiter gemobbt.“Auch das sind Fälle für die Schulsozialarbeitenden, die mit dem Opfer sprechen, aber auch in der Klasse sensibilisieren und aufklären.
Doch all diesen Beobachtungen zum Trotz, scheint der 51-Jährige für seine Arbeit zu brennen. Brehm wirkt nicht desillusioniert, sondern im Gegenteil wie jemand, der seiner Arbeit voller Leidenschaft und der nötigen Portion Humor nachgeht. Für den Heuberg ist er außerdem voll des Lobes: „Wir haben als Sozialarbeiter suptertolle Bedingungen seitens der Gemeinde und sind in den Schulen sehr willkommen.“
Das, was er beschreibt, ist für ihn eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Originäre Familienaufgaben, wie Kindererziehung, würden vermehrt an Institutionen abgegeben. Er ist nicht der einzige, der das so wahrnimmt, Kollegin Carmen Haischer stützt diese These mit eigenen Beobachtungen.
Doch Brehm will sich nicht damit aufhalten, Schuldige zu suchen oder Verlorenem nachzutrauern. Sein Vorschlag: Die Realität akzeptieren und Fakten anerkennen. Für ihn folgt daraus, dass die Erziehungsarbeit der Institutionen gestärkt werden muss. Das bedeute aber vor allem: Personal aufstocken und bessere Löhne zahlen. „Je jünger die Kinder, desto weniger monetär wertvoll ist die Arbeit derjenigen, die sie betreuen.“Das müsste, Brehms Meinung nach, genau umgekehrt sein. Denn: Bereits im Kindergarten werde der Rucksack gepackt. „Je besser die Kids vorbereitet sind, desto besser können sie mit Herausforderungen umgehen.“
Die neuen Kolleginnen
Ingo Brehm sieht nicht, dass der Bedarf an Schulsozialarbeit zurückgeht - „im Gegenteil“. Als er 2004 seine Stelle antrat, sei er einer von vier Schulsozialarbeitenden im Landkreis Tuttlingen gewesen, 2018 seien es 24 gewesen, wobei die Zahl der Schülerinnen und Schüler im Kreis laut Statistischem Landesamt sogar etwas gesunken ist. Brehm freut sich über die Verstärkung auf dem Heuberg. „Das ermöglicht ein ganz anderes Arbeiten.“So bleibt beispielsweise mehr Zeit, um präventiv zu arbeiten.
Yvonne Kalmbach (30) trat im Oktober ihre Stelle an, Carmen Haischer (45) folgte im Dezember. Beide bezeichnen die Schulsozialarbeit als großes berufliches Ziel. Sie interessiere daran die Rolle als Kooperationspartnerin und Vermittlerin, sagt Haischer. Sie kommt aus Frittlingen und hat in Tübingen eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin gemacht. Bevor sie auf den Heuberg kam, arbeitete sie bei Mutpol in Tuttlingen, bei der Frühförderstelle Pfiff in Spaichingen und an der RupertMayer-Schule. Sie ist für die Grundschule in Wehingen und mittelfristig auch für das Gymnasium GosheimWehingen zuständig.
Yvonne Kalmbach aus Dürbheim studierte Soziale Arbeit in Schwenningen und machte ein Praktikum an der Aldinger Gemeinschaftsschule. Als die Stellenausschreibung für Gosheim erschien, war sie eigentlich noch in Elternzeit. Sie bewarb sich trotzdem. „Wenn man mit Kindern arbeitet, bekommt man immer etwas zurück“, sagt Kalmbach. Sie kümmert sich um die Juraschule und die Lembergschule in Gosheim. Brehm ist für die Werkrealschule in Wehingen, die Realschule im Bildungszentrum Gosheim-Wehingen und für Einzelfälle am Gymnasium zuständig.
Corona fordert heraus
Corona hat Yvonne Kalmbach und Carmen Haischer den Start erschwert. Auch wenn sie sich sehr gut aufgenommen fühlen, wie beide sagen. Doch kurz nach Haischers Arbeitsbeginn wurden die Schulen geschlossen. Der persönliche Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen fehle. „Unsere Arbeit zeichnet sich eigentlich durch Nähe aus“, sagt Haischer. „Der Fokus liegt gerade enorm auf der Schule“, beobachtet Kalmbach. Es mangle an Erfolgserlebnissen, die nichts mit dem Unterricht zu tun haben.
„Die Bedeutung des Elternhauses für den schulischen Erfolg hat in dieser Zeit extrem zugenommen“, sagt Brehm, der immer wieder bei Kindern und Jugendlichen vorbeischaut, die Schwierigkeiten mit dem Homeschooling haben. Er merke außerdem, dass die Kinder teilweise eine Wut auf Corona entwickeln, weil sie ihre Oma nicht besuchen dürfen, das Fußballtraining ausfällt oder sie nicht verreisen können. Trotzdem mache er sich um die Jüngeren keine allzu großen Sorgen. „Kinder sind immens anpassungsfähig.“Gedanken mache er sich eher um die Jugendlichen. „Die wollen sich treffen und verbringen jetzt die Zeit damit, abends im Auto herumzufahren, weil sie nirgends hinkönnen.“