Streit um den Fahrplan
Vor dem Corona-Gipfel am Mittwoch ist kein Ende des Lockdowns in Sicht – Länder präsentieren Modelle für Lockerungen
- Längerer Lockdown oder Lockerungen? Vor dem Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten am Mittwoch scheinen die Zeichen auf einer Verlängerung der Maßnahmen zu stehen. Während sich einige Länder entschieden für eine Weiterführung der Schließungen aussprechen, gibt es anderswo Wünsche nach mehr Planbarkeit, etwa für die Gastronomie, den Einzelhandel oder Schulen. Zugleich warnen Wissenschaftler vor zu frühen Lockerungen. Ein Überblick.
Wie stehen die Bundesländer zu Lockerungen?
Die Infektionszahlen sinken, die Sieben-Tage-Inzidenz – also der Wert der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen – liegt laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) erstmals seit drei Monaten unter der Schwelle von 75. Trotzdem erteilten die Ministerpräsidenten der meisten Länder Lockerungen der Corona-Maßnahmen bereits vor dem Bund-Länder-Gespräch eine Absage. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte am Dienstag in Stuttgart, dass es wegen der neuen aggressiveren Virusvarianten keine Planungssicherheit geben könne. „Ich sehe nicht, dass wir schon Termine festlegen können“, so Kretschmann. Allerdings plädierten mehrere Regierungschefs für eine Lockerungsperspektive, darunter Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD): „Ich erwarte (…) von der Bund-Länder-Schalte am Mittwoch, dass wir uns trotz der Unsicherheiten mindestens auf einen gemeinsamen Rahmenplan einigen können, möglichst gekoppelt an Inzidenzen und der Auslastung unserer Intensivmedizin“, sagte der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK).
Welche Pläne gibt es?
Im Zentrum der Szenarien, für die einige Länderchefs plädieren, steht das Stufenmodell. Als eines der ersten Länder hat Niedersachsen einen solchen Sechs-Stufen-Plan vorgelegt.
Auf Basis der Inzidenzwerte könnten sich darüber regional Lockerungen rechtfertigen lassen. Bei einem Wert von unter 10 (Stufe 1) sind private Zusammenkünfte unbegrenzt möglich und in den Schulen findet Präsenzunterricht statt. Auch Geschäfte und Hotels dürfen mit Hygienekonzept öffnen. Liegt der Inzidenzwert zwischen 25 und 50 (Stufe 3), greifen schon strengere Kontaktregeln und etwa Zugangsbeschränkungen für Geschäfte – und Schulen gehen im Falle von Corona-Nachweisen in den Wechselunterricht. Ab der höchsten Stufe (Stufe 6) und einem Inzidenzwert über 200 geht fast nichts mehr. Ähnliche Modelle haben SchleswigHolstein und Thüringen entworfen. Und auch die FDP hat einen Plan mit sieben Stufen für Lockerungen vorgestellt, der am Mittwoch in den
Bundestag eingebracht werden soll. „Ich bin mir sicher, dass erste Öffnungsschritte möglich wären – bei Kitas und Schulen zum Beispiel, aber auch bei Friseuren und im Handel“, so FDP-Chef Christian Lindner. Chancen auf eine Mehrheit hat der Vorstoß nicht, werden doch mindestens die Fraktionen von CDU und SPD dagegen votieren, um ihrer Regierung den Rücken frei zu halten.
Wann öffnen Schulen und Kitas?
Schulen und Kitas stehen auf der Prioritätenliste vieler Teilnehmer des Corona-Krisen-Gipfels ganz oben. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet von den Beratungen eine Perspektive für Schulen und Kitas, wie sie im CDU-Präsidium sagte. Ein Beschluss der Kultusminister der Länder, welcher am Dienstag veröffentlicht wurde, zeigt in welche Richtung es gehen könnte. Demnach sollen ab dem 15. Februar nach den Abschlussklassen auch die unteren Jahrgänge wieder zur Schule gehen – sofern die gute Entwicklung der Inzidenzwerte anhält. Sachsen hat als erstes Bundesland mitgeteilt, Grundschulen und Kitas ab kommenden Montag in einem eingeschränkten Betrieb wieder zu öffnen. BadenWürttembergs Ministerpräsident Kretschmann sagte: „Wir gehen jetzt erstmal stufenweise vor. Priorität haben Kindertagesstätten und Grundschulen.“Das Land hatte Ende Januar verkündet, Grundschulen und Kitas zum 1. Februar teilweise wieder öffnen zu wollen – was allerdings verworfen wurde, nachdem eine Corona-Virus-Variante in einer Kita entdeckt worden war. Ein Datum für die Öffnung von Schulen und Kitas im Südwesten steht bislang nicht fest.
Was raten Experten?
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach steht baldigen Lockerungen skeptisch gegenüber. In eigenen Berechnungen komme er zu dem Ergebnis, dass bei derzeitiger Ausbreitung der Mutanten die Fallzahlen nur noch bis Ende Februar sinken dürften, warnte er auf Twitter. Die Bevölkerung erwarte Lockerungen, aber epidemiologisch gesehen „müssten wir sogar verschärfen“, weil eine dritte Welle mit „Turbo-Virus“drohe. Auch Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation wirbt wie Kollegen an anderen Forschungsinstituten um Geduld. „Es ist realistisch, in diesem Lockdown auf einen Faktor 10 herunterzukommen“, sagt sie. Es lohne sich zu warten, um den bisherigen Erfolg nicht zu verspielen. Stufenpläne hält sie für hilfreich: „Man muss sich nur bewusst sein, dass mit steigenden Fallzahlen auch eine konsequente Eindämmung nötig ist.“Sonst ende es wie nach dem nur teilweisen Lockdown im November – mit weiter steigenden Infektionszahlen.
Welche Lockerungen gibt es in Nachbarländern?
In vielen Nachbarstaaten Deutschlands wurden die Corona-Maßnahmen bereits wieder gelockert. Und das zum Teil trotz relativ hoher Infektionszahlen. In Österreich dürfen seit Anfang der Woche wieder Geschäfte öffnen und auch Friseure können wieder Kunden empfangen. Auch die Schulen wurden geöffnet. Mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 liegt Österreich dabei deutlich über dem Wert in Deutschland. Allerdings gelten bei allen Lockerungen strenge Hygienemaßnahmen. Fast überall müssen FFP2-Masken getragen werden. Wer zum Friseur will, braucht einen negativen Corona-Test. Außerdem bleiben die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen bestehen. Eine gewisse Ausnahme bildet das Bundesland Tirol: Wegen der hohen Zahl an Infektionen mit der Südafrika-Mutante des Coronavirus sind Ausreisen aus dem österreichischen Bundesland ab Freitag nur noch mit einem negativem Corona-Test möglich. Auch Italien hat mit einer landesweiten Inzidenz von über 130 einen deutlich höheren Wert als Deutschland. Dennoch darf auch hier seit einigen Tagen in den meisten Teilen des Landes die Gastronomie wieder öffnen. In den Schulen gibt es ebenfalls Präsenzunterricht. Das Land arbeitet bereits mit einer Art Stufenplan: Ganz Italien wurde in verschiedene Zonen eingeteilt. Nach bestimmten Kriterien wird die Infektionsgefahr für jede Region bewertet – und so entschieden welche Einschränkungen gelten. Aktuell sind weite Teile des Landes zur „gelben Zone“erklärt worden, wo das Risiko einer Ansteckung als gering gilt.