Von Affen und Menschen
T.C. Boyles neuer Roman „Sprich mit mir“garantiert ein originelles Leseerlebnis
Auf eines ist bei T.C. Boyle Verlass: Jeder seiner Romane bietet etwas Neues. Während andere Bestseller-Autoren sich in ihren Genres einrichten, scheint es der Amerikaner auch mit über 70 Jahren noch zu genießen, sich in neue Themen einzuarbeiten. Die basieren gerne auf realen Ereignissen oder Figuren, werde im Dienste der Geschichte aber mit künstlerischer Freiheit weitergestrickt. Handelten frühere Romane von Figuren wie dem Sexforscher Alfred Kinsey oder dem Cornflakes-Schöpfer Alfred Kellog, stand dieses Mal für „Sprich mit mir“ein gewisser Nim Chimpsky Pate. Bei dem handelte es sich allerdings um keinen Menschen – sondern um einen Schimpansen. Dieser wurde wie einige weitere Artgenossen in den 1970er-Jahren wie ein Mensch aufgezogen. Mit den sogenannten Fremdpflegeversuchen wollte man erforschen, ob diese Primaten in der Lage sind, unsere Sprache zu lernen.
Bei sprechenden Affen denken hierzulande wohl viele zunächst an die ZDF-Sendung Ronny’s Pop Show, für die ein Schimpanse in eine Jeansjacke gezwängt wurde und Videoclips anmoderierte. Selber sprechen konnte er dann aber doch nicht, das übernahm Otto Waalkes. Später brachte es dann „Unser Charly“im selben Sender auf stolze 16 Staffeln, bis die Sendung auf Protest von Tierschützern hin eingestellt wurde.
Leichte Unterhaltung, gewiss, die allerdings einige schwere Fragen aufwarf. Die Diskussionen, die seinerzeit geführt wurden, finden sich auch in „Sprich mit mir“wieder: Ist es zulässig, Schimpansen zu vermenschlichen und zur Schau zu stellen? Und wie ist es mit dem Tierschutz vereinbar, die Affen in jungem Alter von ihren Müttern zu trennen und zu isolieren?
Boyle hat darüber hinaus noch ein paar weitere Fragen im Gepäck, die sich im Kern um die ganz großen Themen drehen: Was unterscheidet den Menschen vom Tier, was ist affektgetriebenes Handeln, was Bewusstsein? Die Könnerschaft des Autors liegt nun darin, diese in eine so unterhaltsame wie herzerwärmende, manchmal auch herzzerreißende Geschichte zu packen. Dabei knüpft er ausnahmsweise doch an ein früheres Werk an, „Descent of Man“, die titelgebende Erzählung seiner ersten Kurzgeschichtensammlung, die von einem Schimpansen-Forschungsprojekt und menschlichen Beziehungen handelte.
Für den Roman wurde die Versuchsanordnung aber noch erheblich ausgeweitet. Im Mittelpunkt steht der Schimpanse Sam, der vom Forscher Guy Schermerhorn in einem abgelegenen Hause aufgezogen wird. Das junge Tier hat bereits beachtliche Fortschritte bei der Kommunikation via Zeichensprache gemacht und war mit Guy in einer Fernsehshow zu Gast. Alles läuft aber nicht rund für den Professor: Seine Frau und Forschungspartnerin hat ihn verlassen und nach einer Kratzattacke im Gesicht steht auch eine wissenschaftliche Hilfskraft vor dem Absprung.
Da kommt die Studentin Aimee Villard gerade recht, die die freigewordene Stelle im Projekt und vielleicht auch Guys Bett füllen kann. Für die verschlossene junge Frau ist es in der Tat Liebe auf den ersten Blick – allerdings zunächst einmal zu
Sam. Zwischen den beiden klickt es auf Anhieb und schon bald kümmert sich Aimee in Vollzeit um ihn. Doch die Idylle der Affenfamilie droht immer wieder getrübt zu werden: durch kritische Forscherkollegen, Vorfälle, bei denen Sam über die Stränge schlägt und durch den Bösewicht des Buches, Moncrief. Der Professor war Guys Mentor, ist der Besitzer von Sam und weniger an den Experimenten als an Profit interessiert. Und als das Projekt eingestellt werden zu droht, eskaliert das Geschehen …
Boyle schildert die Geschichte aus dem Blickwinkel des selbstbezogenen Guys und der zurückhaltenden Aimee, die mit dem Schimpansen besser klarkommt als mit den meisten ihrer Mitmenschen. Zur Originalität des Buches trägt aber vor allem die dritte Perspektive bei, denn die stammt von Sam selbst. Das ist durchaus ein gewagter Ansatz, der aber über weite Strecken gut funktioniert. Die Begriffe, die sich in Sams Vokabular finden, stehen in den Kapiteln aus seiner Perspektive in Großbuchstaben, darum herum ersinnt Boyle einen möglichen Gedankenfluss des Affen.
Diese Herangehensweise macht „Sprich mit mir“zu einem originellen Leseerlebnis, das deutschsprachige Leser zunächst exklusiv für sich haben, denn auf Englisch erscheint das Buch erst im September. Wer sonst lieber im Original liest, kann aber beruhigt sein – die deutsche Fassung vom langjährigen Boyle-Übersetzer Dirk van Gunsteren liest sich ausgesprochen rund.