Untergrabene Demokratie
Erdogan will Kurdenpartei nun doch verbieten lassen – EU hält nächste Woche Gipfeltreffen zur Türkei
- Die Parlaments- und Präsidentenwahl in zwei Jahren sei eine Wegscheide für die Türkei – das schärft Recep Tayyip Erdogan seit Wochen den Mitgliedern seiner Partei AKP ein. Mit einer Kabinettsumbildung und einer Umbesetzung des Vorstands beim Parteitag nächste Woche will der Präsident seine Mannschaft auf den Wahlkampf ausrichten. Auch die regierungstreue Justiz hilft bei der Vorbereitung auf die Wahlen. Die Generalstaatsanwaltschaft reichte beim Verfassungsgericht einen Antrag auf Verbot der Kurdenpartei HDP ein, der drittstärksten Kraft im Parlament von Ankara. Die HDP soll aus dem Verkehr gezogen werden, um ein Oppositionsbündnis zu schwächen, das Erdogan besiegen könnte.
Treibende Kraft hinter dem Verbotsantrag ist Devlet Bahceli, rechtsnationaler Bündnispartner von Erdogan im Parlament. Der Antrag wurde einen Tag vor dem Parteitag von Bahcelis MHP am Donnerstag eingereicht – gewissermaßen als „Geschenk“für Bahceli, schrieb der Journalist Murat Yetkin in seinem Blog „Yetkin Report“. Erdogans AKP hatte sich lange gegen ein Verbot der HDP gewehrt. Schließlich war die AKP selbst im Jahr 2008 fast verboten worden. Doch Bahceli, der als Mehrheitsbeschaffer für die AKP viel Macht über die Regierungspolitik hat, ließ nicht locker. Nun gab Erdogan nach.
Generalstaatsanwalt Bekir Sahin, vor nicht einmal einem Jahr von Erdogan ernannt, argumentiert in seinem Verbotsantrag, die HDP sei der politische Arm der Terrororganisation PKK und wolle die Einheit des Staates zerstören. Er fordert vom Verfassungsgericht, die HDP aufzulösen und fast 700 führende Mitglieder der Partei, darunter die Co-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar sowie deren inhaftierte Vorgänger Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, mit einem politischen Betätigungsverbot zu bestrafen. Bis zu einem Urteil werden Monate vergehen.
Buldan und Sancar warfen der Regierung vor, die Justiz zu ihrem Instrument degradiert zu haben. Türkische Medien spekulieren, Erdogan wolle unmittelbar nach einem HDPVerbot vorzeitige Neuwahlen ausrufen, um die Kurdenbewegung daran zu hindern, sich neu zu formieren. Die rund sechs Millionen Wähler der Partei sollen auf diese Weise politisch heimatlos gemacht werden.
Laut Umfragen hat Erdogans Bündnis aus AKP und MHP mit rund 45 Prozent keine Mehrheit mehr. Ein Oppositionsbündnis aus der linksnationalen CHP und der rechtskonservativen IYI-Partei kommt auf etwa 38 Prozent – mit ihren zehn Prozent könnte die HDP den Erdogan-Gegnern zum Erfolg verhelfen. Sie hat bereits gezeigt, was sie bewirken kann: Vor zwei Jahren unterstützte die HDP bei Kommunalwahlen vielerorts Oppositionskandidaten, die in Istanbul, Ankara und anderen Städten die AKP besiegten.
Das will Erdogan nicht noch einmal erleben, doch sein Kalkül ist riskant. Seit den 1990er-Jahren hat der türkische Staat fast ein halbes Dutzend kurdische Parteien verboten, aber der Zuspruch für die jeweiligen Neugründungen wuchs beständig. Besonders erfolgreich ist die 2012 gegründete HDP, denn sie spricht neben kurdischen Wählern auch linksliberale Bürger in den Großstädten an.
Noch vor einigen Jahren hatte Erdogan mit der HDP über eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts verhandelt, doch heute sieht er die Partei als gefährliche Gegnerin. Der Kurdenexperte Mesut Yegen sagte der „Schwäbischen Zeitung“, der Präsident hoffe darauf, dass viele Kurden die nächste Wahl aus Protest gegen das HDP-Verbot boykottieren könnten – das würde der Regierungskoalition helfen.
Auch die HDP-Parlamentsfraktion wird unter Druck gesetzt. Wenige Stunden vor dem Verbotsantrag wurde der HDP-Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu wegen einer umstrittenen Gerichtsentscheidung aus dem Parlament entfernt. Die Justiz ermittelt gegen 20 weitere HDP-Abgeordnete, die ihre Immunität und ihr Mandat verlieren könnten. Die aus Celle stammende HDP-Politikerin Feleknas Uca sagte der „Schwäbischen Zeitung“, allein gegen sie gebe es 58 Anträge auf Aufhebung der Immunität. Die HDP solle mundtot gemacht werden. „Wir müssen jederzeit damit rechnen, dass wir festgenommen und ins Gefängnis geschickt werden“, sagte sie.
Die harte Linie gegen eine demokratisch legitimierte Partei verstärkt die Spannungen zwischen der Türkei und dem Westen. Das US-Außenministerium kritisierte, ein HDP-Verbot würde „die Demokratie in der Türkei weiter untergraben“. Im Europarat könnte es Konsequenzen für die Türkei geben, sagte der SPDMenschenrechtspolitiker Frank Schwabe. Wenn frei gewählte HDPAbgeordnete nach einem Parteiverbot nicht mehr an der Parlamentarischen Versammlung des Europarats teilnehmen könnten, seien Sanktionen möglich.
Die EU zeigte sich ebenfalls „tief besorgt“. Kommende Woche will sich ein EU-Gipfeltreffen mit der Türkei befassen. Allerdings sind dabei nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters keine Sanktionen gegen Ankara zu erwarten. Für die EU seien die Flüchtlingsfrage und der Streit im östlichen Mittelmeer wichtiger als die Demokratie in der Türkei, sagte Kurdenexperte Yegen.