Warnung der Intensivmediziner
Der Mangel an Pflegepersonal bringt das Gesundheitssystem an die Belastungsgrenze
(ak) - Die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) warnt, dass die Belastungsgrenze des Gesundheitssystems in Deutschland bald erreicht sein könnte. Die Zahl der Corona-Patienten, die auf die Intensivstation müssen, steigt – auch im Südwesten, wie Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG), sagt. Er spricht von einer „angespannten“Situation, sieht aber noch keine Gefahr für eine Überlastung. Auch die Bayerische Krankenhausgesellschaft teilt mit, dass die Situation stabil sei. Gegenwärtig sind laut DIVI-Intensivregister in Bayern noch 379 und in Baden-Württemberg noch 252 Betten frei, was einer Kapazität von 11,4 und 10,4 Prozent entspricht.
- In Richtung 5000 steigt die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen – Ärzte warnen bereits vor einer Überlastung der Krankenhäuser. Wenige Tausend belegte Intensivbetten reichen aus, das Gesundheitssystem der viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt an den Rand der Belastbarkeit zu bringen.
Die zunehmende Zahl der belegten Betten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser ist eines der zentralen Argumente für die Kontaktbeschränkungen, über deren Verschärfung die Öffentlichkeit erneut diskutiert. Auf dem Höhepunkte der zweiten Welle im Januar behandelte die Medizin fast 5800 Covid-Schwerkranke. Damit sei die Belastungsgrenze des Systems fast erreicht, hieß es. Aktuell warnt die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dass diese Linie schon bald überschritten werden könnte. Wäre es dann nicht besser, mehr Plätze für intensivmedizinische Behandlung vorzuhalten?
Insgesamt gibt es in den deutschen Krankenhäusern rund 34 000 Intensivbetten. Für knapp 24 000 davon steht Pflegepersonal bereit. Weitere ungefähr 10 000 Betten sind in Reserve. Würden diese ebenfalls gebraucht, müssten Pfleger aber aus anderen Abteilungen abgezogen werden, was die dortige Versorgung verschlechtert.
Unter normalen Umständen reichen diese Kapazitäten aus. Wenn aber Tausende Corona-Patienten hinzukommen, droht die Zahl der freien Betten so zu sinken, dass möglicherweise auch nicht mehr alle Schwerkranken versorgt werden könnten, die an Herzinfarkt, Krebs oder anderen Krankheiten leiden. Diese Überlastung wollen die Regierungen durch Kontaktbeschränkungen verhindern.
Allerdings sei die drohende Überlastung des Gesundheitssystems politisch erzeugt, kritisiert die linksgerichtete Organisation Attac. „Wir haben zu wenig Krankenhausbetten für den Notfall“, heißt es in ihrem aktuellen Video. „Seit 1991 sind mehr als 20 Prozent der Betten verloren gegangen.“Dieser Missstand betreffe auch die Intensivmedizin und das Personal. Attac-Expertin Dagmar Paternoga bemängelt vor allem das System der Fallpauschalen, die die Krankenhäuser zur Finanzierung der Behandlung erhalten. Diese trügen dazu bei, Betten und Personal zu reduzieren, um die Gewinne zu erhöhen.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hält die intensivmedizinische Versorgung dagegen für ausreichend. „Einen grundsätzlichen Mangel an Intensivbetten gibt es im Vergleich zu anderen Staaten hierzulande nicht“, sagt Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß. Mit 34 Betten pro 100 000 Einwohner finde sich Deutschland in der internationalen Spitzengruppe. Uwe Ostendorff, Experte der Gewerkschaft Verdi, stimmt zu: „Deutschland verfügt über deutlich mehr Intensivbetten als vergleichbare Staaten, etwa Österreich, USA, Belgien, Frankreich und Kanada. Wir haben fast dreimal so viele Betten wie Italien.“
Laut dem Arzt Janosch Dahmen zeigt die aktuelle Lage jedoch, dass das Gesundheitssystem auf eine Ausnahmesituation schlecht vorbereitet ist. „Die hiesigen Krankenhäuser halten zu wenige Betten und zu wenig Personal für unvorhersehbare Notfälle, Krisen und Pandemien vor.“Der Gesundheitsexperte der Grünen im Bundestag führt diesen Missstand auf das System der Fallpauschalen zurück. „Die Häuser bekommen Geld, wenn sie Patientinnen und Patienten beispielsweise mit einer Operation behandeln, nicht aber für das Vorhalten von Notfallkapazitäten.“
Die Frage ist, ob und wie sich das ändern ließe. Viele Fachleute stimmen überein, dass man zwar die Menge der Intensivbetten und Beatmungsplätze schnell erhöhen könnte, nicht aber die Zahl des nötigen Pflegepersonals. Schon jetzt herrscht ein deutlicher Mangel. Viele Stellen sind unbesetzt. „Während die Zahl der Behandlungen gestiegen ist, haben die Krankenhäuser beim Personal gespart“, sagt Verdi-Experte Ostendorff.
Daraus folgt nun eine permanente Überlastung der Beschäftigten, zu schlechte Bezahlung und die mangelnde Attraktivität des Pflegeberufs. Außerdem fehle „eine übergeordnete Strategie der Regierung oder aller Krankenhausträger, um dem Fachkräftemangel insbesondere in der Pflege entgegenzuwirken“, sagt Grünen-Politiker Dahmen.
Mit einer höheren Tarifbezahlung, mehr Teilzeitmöglichkeiten, besserer Ausbildung ließe sich die Intensivmedizin wenigstens langfristig ausbauen. Warum peilt die Politik dann nicht beispielsweise 70 000 Intensivbetten mit Personal an? „Wollte man die Zahl der Intensivbetten verdoppeln, würde das außerhalb von Ausnahmesituationen wie der aktuellen Pandemie zu hohen Überkapazitäten führen“, so Krankenhäuser-Vorstand Gaß. „Die müssten dann die Krankenkassen, letztlich die Arbeitnehmer, Arbeitgeber oder der Staat bezahlen.“Konkret stiegen beispielsweise die Krankenkassenbeiträge, die Beschäftigte und Firmen von den Löhnen abführen. Das muss jede Regierung ihren Wählerinnen und Wählern verkaufen.
In der Pandemie würden zudem mehr Intensivbetten „Lockdowns und Kontaktbeschränkungen nicht überflüssig machen“, sagt Dahmen. Sein Argument: Lockerungen führen zu mehr Ansteckungen, schweren Erkrankungen und letztlich zu mehr Todesfällen auf den Intensivstationen.