Mit dem Virus zu leben lernen
Seit anderthalb Jahren begleitet sie uns: die Inzidenz der Corona-Fälle. Wie gebannt klebten viele Menschen, gerade in den schlimmen Monaten, morgens an den jeweils aktuellen Zahlen. Die Inzidenz war praktisch so etwas wie die Richterskala des Corona-Bebens, das die Welt erschütterte. Sie gab den Takt vor, in dem Beschränkungen verhängt oder Lockerungen erlaubt wurden.
Ihr kleiner Bruder wurde darüber lange Zeit fast übersehen: Die Zahl der verfügbaren Intensivbetten spielte nämlich für die Bewertung der Lage eine fast ebenso große Rolle. Das ändert sich nun. Mit der steigenden Zahl von Geimpften ergänzt das hierfür zuständige Robert-KochInstitut seine Berechnungsweise. Künftig fließt auch die Zahl der mehr oder weniger einfachen, nicht lebensbedrohlichen Corona-Fälle in den Kliniken in die Bewertung ein. Also all jene Menschen, die zwar an Corona erkrankt sind, aber nicht auf den Intensivstationen der Krankenhäuser landen.
Dies als spätes Eingeständnis eines Versäumnisses zu werten, wäre verkehrt. Denn so lange bei einer vollkommen schutzlosen Bevölkerung eine Überlastung des Gesundheitswesens nicht ausgeschlossen werden konnte, war eine klare Skala notwendig. Eine Skala, die jeder verstehen konnte. An ihr konnte sich der Normalbürger festhalten, wenn es darum ging einzuschätzen, wie groß die Gefahr einer Ansteckung war, wie viele der Menschen in der eigenen Stadt das Virus in sich trugen. Und ob auch für ihn oder sie im Notfall tatsächlich ein Intensivbett vor Ort frei wäre.
Die Umstellung auf die erweiterte Zählung ist nun das Eingeständnis, dass wir Zeiten der Normalität entgegengehen. Die Messung wird feiner und alltäglicher. Das Coronavirus wird zum Alltag. Denn es ist ein Virus, mit dem wir in der Zukunft werden leben müssen, genauso wie mit den Erregern von Masern, Röteln oder Tuberkulose. Das alles sind auch heute noch gefährliche Krankheiten, ja. Aber solche, vor denen kein Geimpfter mehr Todesangst haben muss.