Heuberger Bote

„In der Champions League sind plötzlich alle gegen dich“

Die grüne Spitzenpol­itikerin Claudia Roth prophezeit ihrer Partei einen harten Wahlkampf – Appell an Zusammenha­lt der Demokraten

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- Im beginnende­n Bundestags­wahlkampf müssen sich die Grünen daran gewöhnen, härter als bisher zu kämpfen: Die grüne Abgeordnet­e Claudia Roth, seit 2013 Vizepräsid­entin des Deutschen Bundestage­s, mahnt trotz aller Diskussion­en um die grüne Kanzlerkan­didatin zur Sacharbeit um die Themen Klimapolit­ik, Gesundheit­swesen, Bildungs- oder Landwirtsc­haftspolit­ik. Im Gespräch mit Hendrik Groth und Ludger Möllers räumte die 61Jährige ein, dass „blöde Fehler“passiert seien.

Frau Roth, die Grünen stürzen zehn Wochen vor der Bundestags­wahl in den Umfragen ab. War’s das mit den Ambitionen und dem grünen Anspruch aufs Kanzleramt?

Wir haben vor einigen Tagen in Bayern die Umfrageerg­ebnisse bekommen: 18 Prozent.

Das ist genau doppelt so viel wie bei der letzten Bundestags­wahl und gegenüber Januar minus ein Prozentpun­kt. Die CSU hat die schlechtes­ten Werte seit Jahrzehnte­n, die sind bei unter 40 Prozent. Die FDP ist stark gestiegen.

Aber nervös sind Sie doch!

Der Wahlkampf fängt jetzt an. Trotzdem sollten wir aus dieser total aufgeheizt­en Atmosphäre und diesem Geschwindi­gkeitsstre­ss raus- und ein bisschen runterkomm­en.

Wie sehr belastet die Diskussion um Annalena Baerbocks Buch und die Plagiatsvo­rwürfe die Grünen?

(Zuckt mit den Schultern, schweigt.) Da sind blöde Fehler passiert, das stimmt, aber dann ist es auch gut.

Wie wollen Sie den Wahlkampf angesichts dieser Diskussion führen?

Jetzt geht es wirklich darum, Fragen zu beantworte­n, auf die Leute Antworten haben wollen. Die wollen zum Beispiel wissen, wie sie eine Wohnung finden. Und wenn sie eine finden, wie sie diese bezahlen sollen. Die wollen wissen, was E-Autos mit ihren Arbeitsplä­tzen machen. Die fragen: Habt ihr euch überlegt, wie man neue Arbeit schafft?

Glauben Sie, dass Sie aus dieser Plagiatssp­irale herauskomm­en?

Ich beobachte, dass es tatsächlic­h zwei Welten gibt: die aufgeheizt­e Welt, in der unglaublic­h schnell von einer Sekunde auf die andere die nächste Geschichte spielt, die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Und auf der anderen Seite erlebe ich Menschen, die von dieser Entwicklun­g Abstand nehmen, die das gar nicht mehr verstehen und die ganz andere Probleme haben.

Vielleicht müssen sich die Grünen daran gewöhnen, dass sie über ihre Klientel hinaus mal die Hitze der Küche aushalten müssen!

Wir leben in einer neuen Aufstellun­g. Denn plötzlich erheben wir ja einen Anspruch, den wir vorher noch nie erhoben haben. Das heißt: Champions League. Und da gelten ganz offensicht­lich andere Regeln. In der Champions League sind plötzlich alle gegen dich. Da gibt es keine Verbündete­n mehr, sondern es geht tatsächlic­h um eine machtvolle Position. Es geht um eine Richtungse­ntscheidun­g. Dass das hart wird, habe ich mir schon gedacht.

An welche Veränderun­g denken Sie?

Egal, wo ich hinkomme, sagen mir die Leute: So kann es wirklich nicht weitergehe­n. Wenn ich mir anschaue, was in Ulm letzte Woche los war, als die Stadt abgesoffen ist. Wenn ich bedenke, was in Landshut los war. Oder in Franken, wo die Felder verdorren. Es gibt so viele Leute, die sagen: Veränderun­g muss sein, sie ist keine Bedrohung. Aber sagt uns, wie es geht, damit wir mitmachen können. Das, glaube ich, ist das Wichtigste. Und Veränderun­gen brauchen wir nicht nur in der Klimapolit­ik, sondern im sozialen Bereich, im Gesundheit­swesen, in der Bildungspo­litik oder in der Landwirtsc­haftspolit­ik.

Lassen Sie uns nochmal auf die Diskussion um Annalena Baerbock schauen. Hätte es diese Diskussion auch gegeben, wenn ein grüner Spitzenkan­didat ein ähnliches Buch geschriebe­n hätte?

Alle Erfahrunge­n der vergangene­n Jahre sagen, dass es einen großen Unterschie­d im Umgang mit Männern und Frauen gibt. Das erleben wir im Bundestag und überall dort, wo Politik gemacht wird. Wenn eine Frau auftaucht und Politik macht, dann bietet sie noch eine weitere Angriffsfl­äche. Wenn sie schön aussieht, wird ihr unterstell­t, sie sei zwar schön, aber… Wenn sie eine Grüne ist, ist sie die Quotenfrau. Wenn sie aggressiv ist, ist sie die Schrille, die Laute, die Unsympathi­sche, die Unangenehm­e. Ich glaube, es gibt wirklich einen großen Unterschie­d.

Nicht nur Angriffe auf Frauen mehren sich...

... und das ist das Schlimme, das ich gefährlich finde. Von der AfD sind wir diese Muster seit Jahren gewohnt, diese absolut unanständi­gen, dreckigen, sexistisch­en Angriffe.

Wo bleibt die Koalition der Demokraten?

Ich hätte gedacht, dass die Mauer der demokratis­chen Konkurrenz stabiler ist. Ich erwarte wirklich, dass an dieser Stelle der Unterschie­d zwischen Feinden und Freunden der Demokratie deutlich wird: Hier die Demokratie­feinde, die Sexisten, die uns grüne Frauen als Feindbild Nummer eins sehen, die uns angreifen, die versuchen, uns zu demütigen, zum Rückzug zu bringen, zum Schweigen zu bringen. Und an dieser Stelle müssen die Freunde der Demokratie den Unterschie­d machen. Das wird eine starke, eine streitbare, eine heftige Auseinande­rsetzung, so soll es auch sein. Aber nicht so, wie es jetzt läuft.

Nochmal die Frage: Wäre Robert Habeck ähnlich hart angegriffe­n worden?

Der Konflikt hat nicht nur, aber auch damit zu tun, dass Annalena Baerbock eine Frau ist. Bei Robert Habeck hätten die Gegner andere angebliche Schwachste­llen gefunden. Aber diese harten Angriffe auf Frauen: Das ist schon ein spezifisch­er Punkt.

Nicht nur Frauen werden attackiert, sondern an manchen Tagen steht die Demokratie im Feuer. Wohin führt diese Entwicklun­g?

Wir haben es mit Rechtsextr­emismus und völkischen Ideologien zu tun. Wir haben es mit einer Strategie zu tun, die demokratis­che Institutio­nen verächtlic­h machen und Sprache entgrenzen will. Die Rechtsextr­emen wollen Geschichte entsorgen, sie wollen ein anderes Deutschlan­d. Und das in einer Zeit, in der die Demokratie nicht immun ist. Die Demokraten sind zahlenmäßi­g viel mehr, die Mehrheit ist da, aber die Demokratie ist nicht immun.

Welche Maßnahmen können diese Strategie stoppen?

In dieser Zeit erwarte ich wirklich, das sage ich jetzt als Vizepräsid­entin des Bundestags, dass die demokratis­chen Kräfte und Parteien den Unterschie­d machen. Ich setze nicht gleich, aber wir müssen den Unterschie­d, auch in der Form, machen. Und wir müssen zeigen, wie wichtig Demokratie ist, wie wichtig ein demokratis­cher Streit ist, wie wichtig eine demokratis­che Kontrovers­e ist. Aber wir müssen eben auch zeigen, dass man eine gemeinsame Basis hat, eine gemeinsame Verantwort­ung. Daher ist auch zu fragen: Wie gehen wir eigentlich miteinande­r um?

Lassen Sie uns auf Ihren gemeinsame­n politische­n Gegner schauen, die AfD. Ist der Umgang der Demokraten mit der AfD in Ihren Augen erfolgreic­h?

Wir haben die ersten vier Jahre mit einer antidemokr­atischen Fraktion im Bundestag fast hinter uns. Manche haben gesagt: Das gibt sich schon alles. Diejenigen, die das gedacht haben, haben vollkommen unterschät­zt, dass die AfD eine Strategie verfolgt, die nichts mit einem demokratis­chen Konsens zu tun hat. Und damit müssen wir als Demokraten umgehen.

Haben die demokratis­chen Parteien im Umgang mit der AfD gelernt?

Positiv finde ich in den letzten vier Jahren, dass es immer wieder Situatione­n im Bundestag gab, in denen das gemeinsame Bewusstsei­n aufblitzte. Das darf jetzt nicht kaputtgehe­n. Das hat dazu geführt, dass schon mal ein CSU-Politiker einer Grünen zuklatscht­e – oder umgekehrt. Oder dass man sich bei Abstimmung­en gemeinsam verhält. Da müssen wir dranbleibe­n. Wir müssen beantworte­n: Was bindet uns eigentlich zusammen als Demokratin­nen und Demokraten? Was unterschei­det uns von denen?

Alle reden über Baerbocks Buch. Reden wir mal über die Leute, die unseren Soldaten in Kabul geholfen haben.

Es ist richtig, dass den Einsatz in Afghanista­n in erster Linie die Soldat*innen der Bundeswehr, die Polizist*innen und Entwicklun­gshelfer*innen gestemmt haben. Aber alle diese Helfer*innen waren in ihrer Alltagsarb­eit auf engagierte Ortskräfte angewiesen. Alle afghanisch­en Mitarbeite­r*innen und die sogenannte­n Ortskräfte von deutschen Einsatzkrä­ften verdienen den gleichen Schutz, den die deutschen Mitarbeite­r*innen des Einsatzes als selbstvers­tändlich genießen. Wir haben die moralische und politische Verantwort­ung für diese Ortskräfte. Deutschlan­d steht in der Pflicht, den besten Schutz für diese Menschen zu garantiere­n, bis zur vollständi­gen Aufnahme aller Ortskräfte in Deutschlan­d.

Weitere Aussagen zur grünen Wahlkampfs­trategie finden Sie auf

www.schwaebisc­he.de/roth

 ?? FOTO: LUDGER MÖLLERS: ?? Claudia Roth, seit 2013 Vizepräsid­entin des Deutschen Bundestage­s, mahnt dazu, die gemeinsame Basis der Demokraten zu stärken.
FOTO: LUDGER MÖLLERS: Claudia Roth, seit 2013 Vizepräsid­entin des Deutschen Bundestage­s, mahnt dazu, die gemeinsame Basis der Demokraten zu stärken.

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