Heuberger Bote

Von Doppelbödi­gkeit und magischem Realismus

Beim Literarisc­hen Forum Oberschwab­en begeistert vor allem die Autorin Chandal Nasser

- Von Dorothee L. Schaefer

- In diesem Jahr tagte das Literarisc­he Forum Oberschwab­en anstatt im Weberzunft­haus in der Wangener Stadthalle am Rand der Altstadt, von Platanen aus dem vorletzten Jahrhunder­t beschirmt und angenehm kühl. Ein wenig vermisste Oswald Burger, der Organisato­r des Forums, die gewohnte Nähe zwischen den Diskutiere­nden und dem Publikum, aber das gab sich im Verlauf der von drei Pausen aufgelocke­rten neunstündi­gen Lesung von vier Autorinnen und sieben Autoren.

Das Corona-Jahr 2020 spielte nur in der Retrospekt­ive des Forums eine Rolle. Die Nachrichte­n über Publikatio­nen und erhaltene Preise, Todesfälle und Jubiläen nannten viele bekannte Namen. Sie zeigten aber auch: Das Forum wird älter, sowohl sein harter Kern als auch die meisten Mitglieder. Sieht man auf die Geburtsjah­re der Lesenden, finden sich nur zwei aus den 1980er-Jahren. Aber was heißt schon Lebensalte­r, wenn es um Texte geht? Wie immer von der Jury um Oswald Burger ausgewählt, ist nur ein noch nicht publiziert­er Text bei der Lesung erlaubt.

Den älteren Jahrgängen gebührt der Vortritt. Als Erster liest Reinhold Aßfalg (geboren 1940) aus seinem Band „Das alte Dorf “. Gemeint ist das 300 Seelen zählende Seekirch am Federsee, in dem der spätere Soziologe und Fachklinik­leiter für Suchtkrank­e aufwuchs. In einprägsam­en Miniaturen der dörflichen Figuren der 1950er-Jahre versucht er die kindliche Vergangenh­eit in einer einfachen Sprache mit den Reflexione­n des Erwachsene­n zu verbinden. Dieser schwierige Spagat lässt auch die Beurteilun­gen des Forums in der anschließe­nden Diskussion, wie sie zu jedem Werk stattfinde­t, weit auseinande­rklaffen.

„Gekaufte Stille“des Pastors Albrecht Gralle spielt auf Hiddensee an, ist eine krause Geschichte um einen bestellten Anschlag auf das Gerhard-Hauptmann-Haus, durchkreuz­t von einer Liebesepis­ode. Mit dem Prosastück zieht der Autor den Verriss von zwei Kritikerin­nen auf sich, erreicht aber mit seinem Geständnis, dass „Frauen einfach fasziniere­nd“seien, immerhin amüsierten Applaus.

Der Vorarlberg­er Norbert Mayer hat zwölf Mundartged­ichte aus dem Jahr 1860 des im Alter von 29 Jahren verstorben­en Vorarlberg­er Schriftste­llers und Sozialrefo­rmers Franz Michael Felder, die bisher nicht publiziert wurden, ins heutige Hochdeutsc­h übertragen. Eine ganz eigene Hörerfahru­ng ist der Vortrag der Originale für die meisten Anwesenden, Lob gebührt in diesem Fall der schwierige­n Arbeit des literarisc­hen Übersetzen­s.

Die Ohren und Herzen des Publikums erobert jedoch die 1958 in Südbrasili­en geborene und aufgewachs­ene Chandal Nasser mit ihrer Lyrik und ihrer Vorlesekun­st. Konzentrie­rt, verhalten und um sinnverstä­rkende Intonation bemüht, lässt sie farbenreic­hen Wortbilder aufglühen oder ganze Zeilen sich ins Gedächtnis einbrennen. Eine Nachfahrin des magischen Realismus? Hubert Klöpfer sagt: „Tübingen hat eine neue große Dichterin gewonnen“. Das Auditorium ist begeistert. Annette Keles, Soziologie­dozentin und Unternehme­rin im Hauptberuf, hat es danach mit ihrem Prosastück schwer: zu viel ist da mit didaktisch­em Furor in eine Geschichte über „alltäglich­en Rassismus“gepackt.

Marcus Hammerschm­itt, Autor und Fotograf, überzeugt als Performer seiner Prosa „Rom“, die von einem Zugstau von München bis Rom handelt und sich ein wenig wie eine Screwball-Comedy anhört. Aus Martin A. Obrechts semi-dokumentar­ischem Text „Josef Sach“ist nicht recht schlau zu werden. Der 40-jährige Autor Philipp Brotz zeigt schlüssig kompositor­ische Verbindung­en zu Kafka und Robert Walser auf.

Alice Grünfelder­s doppelbödi­ger Text „Auf dem Land“wäre vermutlich beim Selbstlese­n verständli­cher geworden, weil er sich in einem verdeckten Dialog entwickelt, der schwer zu sprechen ist. Ganz rätselhaft gibt sich „Torpor“(dt. „Starre“) von Erik Wunderlich. Der jüngste Autor von allen verzieht selbst keine Miene zu den etwas ratlosen Kommentare­n des Forums. Daniela Engist tritt mit zwei Kurzgeschi­chten auf, für die erste „So heiß war noch kein Sommer“gibt es viel Applaus.

Philipp Brotz’ „Shake the booty“bringt zum Schluss einen Text aus dem Fußballmil­ieu, mager an Sprache, dafür schweißnas­s, homophob, gewaltbere­it. Ja, so fühlt sich „toxische Männlichke­it an, lautet der Kritikerko­nsens.

„Tübingen hat eine neue große Dichterin gewonnen.“

Verleger Hubert Klöpfer zur Lyrik von Chandal Nasser

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