Von Doppelbödigkeit und magischem Realismus
Beim Literarischen Forum Oberschwaben begeistert vor allem die Autorin Chandal Nasser
- In diesem Jahr tagte das Literarische Forum Oberschwaben anstatt im Weberzunfthaus in der Wangener Stadthalle am Rand der Altstadt, von Platanen aus dem vorletzten Jahrhundert beschirmt und angenehm kühl. Ein wenig vermisste Oswald Burger, der Organisator des Forums, die gewohnte Nähe zwischen den Diskutierenden und dem Publikum, aber das gab sich im Verlauf der von drei Pausen aufgelockerten neunstündigen Lesung von vier Autorinnen und sieben Autoren.
Das Corona-Jahr 2020 spielte nur in der Retrospektive des Forums eine Rolle. Die Nachrichten über Publikationen und erhaltene Preise, Todesfälle und Jubiläen nannten viele bekannte Namen. Sie zeigten aber auch: Das Forum wird älter, sowohl sein harter Kern als auch die meisten Mitglieder. Sieht man auf die Geburtsjahre der Lesenden, finden sich nur zwei aus den 1980er-Jahren. Aber was heißt schon Lebensalter, wenn es um Texte geht? Wie immer von der Jury um Oswald Burger ausgewählt, ist nur ein noch nicht publizierter Text bei der Lesung erlaubt.
Den älteren Jahrgängen gebührt der Vortritt. Als Erster liest Reinhold Aßfalg (geboren 1940) aus seinem Band „Das alte Dorf “. Gemeint ist das 300 Seelen zählende Seekirch am Federsee, in dem der spätere Soziologe und Fachklinikleiter für Suchtkranke aufwuchs. In einprägsamen Miniaturen der dörflichen Figuren der 1950er-Jahre versucht er die kindliche Vergangenheit in einer einfachen Sprache mit den Reflexionen des Erwachsenen zu verbinden. Dieser schwierige Spagat lässt auch die Beurteilungen des Forums in der anschließenden Diskussion, wie sie zu jedem Werk stattfindet, weit auseinanderklaffen.
„Gekaufte Stille“des Pastors Albrecht Gralle spielt auf Hiddensee an, ist eine krause Geschichte um einen bestellten Anschlag auf das Gerhard-Hauptmann-Haus, durchkreuzt von einer Liebesepisode. Mit dem Prosastück zieht der Autor den Verriss von zwei Kritikerinnen auf sich, erreicht aber mit seinem Geständnis, dass „Frauen einfach faszinierend“seien, immerhin amüsierten Applaus.
Der Vorarlberger Norbert Mayer hat zwölf Mundartgedichte aus dem Jahr 1860 des im Alter von 29 Jahren verstorbenen Vorarlberger Schriftstellers und Sozialreformers Franz Michael Felder, die bisher nicht publiziert wurden, ins heutige Hochdeutsch übertragen. Eine ganz eigene Hörerfahrung ist der Vortrag der Originale für die meisten Anwesenden, Lob gebührt in diesem Fall der schwierigen Arbeit des literarischen Übersetzens.
Die Ohren und Herzen des Publikums erobert jedoch die 1958 in Südbrasilien geborene und aufgewachsene Chandal Nasser mit ihrer Lyrik und ihrer Vorlesekunst. Konzentriert, verhalten und um sinnverstärkende Intonation bemüht, lässt sie farbenreichen Wortbilder aufglühen oder ganze Zeilen sich ins Gedächtnis einbrennen. Eine Nachfahrin des magischen Realismus? Hubert Klöpfer sagt: „Tübingen hat eine neue große Dichterin gewonnen“. Das Auditorium ist begeistert. Annette Keles, Soziologiedozentin und Unternehmerin im Hauptberuf, hat es danach mit ihrem Prosastück schwer: zu viel ist da mit didaktischem Furor in eine Geschichte über „alltäglichen Rassismus“gepackt.
Marcus Hammerschmitt, Autor und Fotograf, überzeugt als Performer seiner Prosa „Rom“, die von einem Zugstau von München bis Rom handelt und sich ein wenig wie eine Screwball-Comedy anhört. Aus Martin A. Obrechts semi-dokumentarischem Text „Josef Sach“ist nicht recht schlau zu werden. Der 40-jährige Autor Philipp Brotz zeigt schlüssig kompositorische Verbindungen zu Kafka und Robert Walser auf.
Alice Grünfelders doppelbödiger Text „Auf dem Land“wäre vermutlich beim Selbstlesen verständlicher geworden, weil er sich in einem verdeckten Dialog entwickelt, der schwer zu sprechen ist. Ganz rätselhaft gibt sich „Torpor“(dt. „Starre“) von Erik Wunderlich. Der jüngste Autor von allen verzieht selbst keine Miene zu den etwas ratlosen Kommentaren des Forums. Daniela Engist tritt mit zwei Kurzgeschichten auf, für die erste „So heiß war noch kein Sommer“gibt es viel Applaus.
Philipp Brotz’ „Shake the booty“bringt zum Schluss einen Text aus dem Fußballmilieu, mager an Sprache, dafür schweißnass, homophob, gewaltbereit. Ja, so fühlt sich „toxische Männlichkeit an, lautet der Kritikerkonsens.
„Tübingen hat eine neue große Dichterin gewonnen.“
Verleger Hubert Klöpfer zur Lyrik von Chandal Nasser