Das Virus im Blick behalten
Dass sich Gesundheitsminister Jens Spahn zum Ende seiner Amtszeit auch für ein Ende der „epidemischen Lage“ausspricht, wirkt fast ein wenig drollig. Denn künftig wird er wohl als einfacher Oppositionsabgeordneter über die Corona-Befugnisse der neuen Bundesregierung entscheiden. Doch das nur am Rande. Spahn hat ja völlig zu Recht eine Debatte darüber angestoßen, wie viel Notlage durch die Pandemie noch gegeben ist. Dabei geht es nicht nur um medizinische Fragen, sondern auch um Freiheitsrechte und die Rolle der Parlamente. Die Demokratie und das Verhältnis der Bürger zum Staat haben unter der CoronaKrise gelitten. Umso dringlicher ist es, zur Normalität zurückzukehren, wenn das Risiko vertretbar ist.
Die Breite an Reaktionen auf Spahns Vorschlag zeigt jedoch, wie diffizil die Corona-Situation noch immer ist. Wer beispielsweise den Blick auf Menschen richtet, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, wird den Vorstoß anders bewerten als derjenige, der wieder mit 25 000 Zuschauern in einem Fußballstadion jubelt. Auch wer trotz Impfung, Test und Maske Angehörige in einem Krankenhaus oder im Pflegeheim in der Regel nur stundenweise besuchen darf, sehnt sich anders nach Normalität als derjenige, dessen Alltag durch die Pandemie nicht beeinträchtigt wird.
So verschieden die Lebenswelten sind, so differenziert sollte die Corona-Politik bleiben. Es steht ja auch nirgends geschrieben, dass die Bundesländer künftig Masken- und Abstandsregeln dort, wo sie sinnvoll sind, nicht anordnen können. Auch der „Freedom Day“mit dem Ende aller Beschränkungen, den Bayerns Ministerpräsident Markus Söder für Ende November vorhergesagt hat, ergibt sich nicht zwangsläufig aus dem Ende der Notlage. Doch es ist absehbar, dass es wieder mehr dem Einzelnen überlassen bleibt, wie er sich gegen Coronaviren und andere Krankheitserreger schützen will. Derjenige, der lieber eine FFP2-Maske als eine Rotznase im Gesicht hat, wird sie eben auch künftig in überfüllten Bussen und Zügen tragen – Pflicht hin oder her.