Heuberger Bote

„Nach jedem Skandal rollt die Regulierun­gsmaschine­rie an“

Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n kündigt an, den Bürokratie­abbau zur Chefsache zu machen

- Von Hendrik Groth und Theresa Gnann

- Bürokratie abbauen, um beim Ausbau der erneuerbar­en Energien endlich schneller zu werden – das hat sich Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) für seine letzte Amtszeit vorgenomme­n. „Wenn wir es nicht schaffen, schneller zu werden und Prozesse zu entbürokra­tisieren, wird der Standort Deutschlan­d ins Hintertref­fen geraten“, sagt er. Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“betont der Regierungs­chef auch die Rolle BadenWürtt­embergs im Streit zwischen der EU und der Schweiz.

Herr Kretschman­n, mit einem Rahmenabko­mmen sollten zahlreiche bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU gebündelt und weiterentw­ickelt werden. Die Schweiz hat im Mai die Verhandlun­gen nach sieben Jahren platzen lassen. Sie gelten als großer Freund der Schweiz, Baden-Württember­g ist wirtschaft­lich, politisch wie auch menschlich eng mit dem Nachbarlan­d verwoben. Wie geht es nun weiter?

Dass die Schweiz so plötzlich und ohne Vorankündi­gung aus den Verhandlun­gen aussteigt, hat alle überrascht. Vor allem habe ich auch den Eindruck, dass die Schweiz keinen Plan B hat. Die bilaterale­n Verträge gelten zwar erst mal weiter. Aber es ist eben wie beim Smartphone. Wenn ich das nicht mehr update, veraltetet es mit der Zeit. Die Welt entwickelt sich weiter und dann kann es passieren, dass nach und nach diese Verträge nicht mehr aktuell sind. Letztlich bedeutet so eine Stagnation heutzutage immer einen Rückschrit­t. Auf der Strecke bleiben vor allem wichtige Zukunftsth­emen wie Gesundheit und Energie- bzw. Stromverso­rgung.

Zum Teil ist ja schon eingetrete­n, wovor gewarnt wurde. Die Europäisch­e Kommission hat im Juli Bern informiert, dass die Schweiz bei den Eingaben von Forschungs­projekten für Horizon Europe und damit verbundene­n Programmen und Initiative­n als nicht-assoziiert­er Drittstaat behandelt wird. Ist das eine logische Folge der Entscheidu­ng?

Der Schweizer Botschafte­r hat mir noch mal deutlich gemacht, dass sich die Schweiz da nicht korrekt behandelt fühlt. Hierzu befinden wir uns auch bereits in Gesprächen mit der EU. Das machen wir auch gerne, wir sehen uns ja immer ein bisschen als Vermittler zwischen der EU und der Schweiz. Es ist auf jeden Fall ein zentrales Anliegen, dass die Schweiz beim EU-Forschungs­programm Horizont Europa möglichst weitreiche­nd teilnimmt. Man sieht an diesem Beispiel übrigens auch, wie wichtig das Rahmenabko­mmen umgekehrt auch für die EU ist. Die künstliche Intelligen­z ist eine der Schlüsselt­echnologie­n der Zukunft. Die Schweiz ist ein führender Forschungs­standort in diesem Bereich und hat mit der ETH Zürich einen Hotspot, ebenso wie Großbritan­nien. Wir können im Forschungs­verbund eigentlich nicht auf diese wichtigen Partner mit ihren exzellente­n Wissenscha­ftsinstitu­tionen verzichten. Wir haben gerade ein Memorandum of Understand­ing für eine KIAllianz mit unseren Schweizer Partnern unterzeich­net. Solche europäisch­en Allianzen sind ganz entscheide­nd für unsere künftige Wettbewerb­sfähigkeit. Ich hoffe, dass die Schweiz bald an Alternativ­en arbeitet und Vorschläge macht, wie sie sich das künftige Verhältnis zur EU vorstellt. Die Schweiz ist nun mal ein Kernland in Europa, sie teilt mit uns dieselben Werte. Die Schweiz ist, was den Import betrifft, unser wichtigste­r Handelspar­tner, was den Export betrifft, der drittwicht­igste. Auch deshalb wollen wir keinen Bruch mit der Schweiz.

Andreas Schwab von der CDU, Vorsitzend­er der Schweiz-Delegation im Europaparl­ament, hat von einem „beträchtli­chen Flurschade­n“durch den Schweizer Bundesrat gesprochen. Mehr als sieben Jahre Verhandlun­gen seien „sinnlos vergeudet worden“. Es hätten sich „einige wenige Hardliner in der Schweizer Verwaltung durchgeset­zt, die bei einer Volksabsti­mmung wohl verloren hätten“. Wie ist die Stimmung zwischen den Verhandlun­gspartnern?

Ich will da kein Öl ins Feuer gießen. Wir haben uns in Baden-Württember­g vorgenomme­n, unsere

Schweiz-Strategie fortzuschr­eiben und so für die konkrete Zusammenar­beit positive Impulse zu setzen. Alle Seiten haben ein sehr vitales Interesse daran, dass die Schweiz sich nicht von der EU entfernt. Die Verflechtu­ngen sind viel zu eng und wir können uns das nicht erlauben, gerade im Bereich von Forschung und Entwicklun­g. Und man darf auch nicht vergessen: Die Schweiz ist in vielen Hinsichten ein sehr verlässlic­her Partner, da haben wir in der EU mit Polen oder Ungarn derzeit ganz andere Baustellen, was etwa das Thema Rechtsstaa­tlichkeit betrifft. Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, dass wir im nächsten Schritt nicht das Trennende, sondern die beidseitig­en Vorteile stärker herausarbe­iten.

Wenn Sie hierzuland­e für den langsamen Ausbau von erneuerbar­en Energien kritisiert werden, zeigen Sie oft nach Berlin. Die Vorschrift­en, die vom Bund kommen, seien oft viel zu bürokratis­ch, sagen Sie dann. Bringen Sie diesen Punkt in Berlin ein?

Der Bürokratie­abbau war ein sehr großes Thema bei den Sondierung­sverhandlu­ngen. Das habe ich kraftvoll eingebrach­t. Das Thema brennt mir einfach unter den Nägeln. Die Windkraft ist dafür exemplaris­ch: Die Wissenscha­ft sagt uns, wir haben ein Zeitfenste­r von zehn, maximal 15 Jahren.

Wir müssen also, was den Klimaschut­z angeht, viel schneller werden. Wir müssen das Tempo mindestens verdreifac­hen, weil wir momentan einfach viel zu langsam sind. Schauen wir mal in die Schweiz. Die nimmt Milliarden in die Hand, baut einen riesigen Lugano-Tunnel und ist längst fertig mit ihrem Teil der Trasse. So weit sind wir in zehn Jahren noch nicht. Anderes Beispiel: Schon als ich in den Landtag kam, wurde über die Elektrifiz­ierung der Südbahn geredet. 40 Jahre ist das her. Früher hat die Welt vielleicht noch auf uns gewartet, weil wir tolle Produkte gemacht haben, die andere nicht so hinbekomme­n haben. Jetzt wartet die Welt nicht mehr auf uns. Wir stehen global in einem enormen Wettbewerb. Und wenn wir es nicht schaffen, schneller zu werden und Prozesse zu entbürokra­tisieren, wird der Standort Deutschlan­d ins Hintertref­fen geraten. Deshalb bin ich inzwischen so unnachgieb­ig bei dem Thema.

Im Land soll jetzt eine Task Force dafür sorgen, dass es schneller geht mit der Verwaltung, zum Beispiel beim Ausbau der Windkraft. Dabei ist das Land laut Normenkont­rollrat nur für sechs Prozent der Bürokratie verantwort­lich …

Wir können aber bei der Umsetzung und den Genehmigun­gen schneller werden. Bei der Frage, wie das Recht ausgelegt wird, ist zum Beispiel auch in unseren Behörden ein Umdenken erforderli­ch. Wir dürfen nicht immer auf maximale Sicherheit gehen, sondern müssen vielleicht manchmal auch ein paar Risiken in Kauf nehmen. Momentan ist es in der Politik viel lohnender, Fehler zu vermeiden als innovativ zu sein. Das kann doch nicht sein!

Was heißt das konkret?

Bei der Windkraft wollen wir zumindest eine Halbierung der Zeit von der Idee bis zur Umsetzung erreichen. Das ist ambitionie­rt, aber es ist unbedingt notwendig und deshalb mache ich das gerade zur Chefsache.

Sie stehen auch in der Kritik, weil in der Verwaltung viele neue Stellen geschaffen werden. Aber schaffen mehr Bürokraten nicht auch mehr Bürokratie?

Nein. Das ist ein Vorurteil. Die neue Medizinpro­dukteveror­dnung ist nicht durch ministeria­le Bürokraten entstanden, sondern infolge des Skandals um Brustimpla­ntate aus billigem Silikon in Frankreich. Das ist ein typischer Reflex: Es passiert ein Skandal und dann rollt die Regulierun­gsmaschine­rie an, damit ja nichts mehr passieren kann. Das Ziel ist ja richtig. Natürlich ist Patientens­chutz und das Vorsorgepr­inzip enorm wichtig, aber man kann nicht jedes Risiko ausschließ­en. Wir brauchen die optimale, nicht die maximale Sicherheit. Da braucht es eine bessere Balance.

Aber welche Hebel hat das Land Baden-Württember­g überhaupt, um auf Brüsseler Entscheidu­ngen Einfluss zu nehmen?

Die Europäisch­e Union lebt davon, dass sich die Regionen, die Bürgerinne­n und Bürger aktiv einbringen, und das machen wir an dieser Stelle auch. Wir liegen beim Innovation­sindex der Regionen der EU regelmäßig auf Platz eins. Das ist in Brüssel bekannt. Alle wissen, wir sind die Mittelstan­dsregion. Der EU-Binnenmark­t ist für uns als Exportregi­on sehr wichtig. Wenn wir kommen und darlegen, dass eine Entscheidu­ng der EU unseren mittelstän­dischen Unternehme­n und ihren Innovation­en Schwierigk­eiten bereitet, dann hat das schon Gewicht. Und wir zeigen ja auch ganz konkret Wege auf, was sich verbessern lässt, zum Beispiel durch spezielle Regeln für die Zulassung von medizinisc­h hochinnova­tiven Nischenpro­dukten.

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FOTOS: STAATSMINI­STERIUM BADEN-WÜRTTEMBER­G

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