Heuberger Bote

Die Horrorgesc­hichte des Todespfleg­ers

Warum konnte Niels H. so lange morden? Ein neues Buch liefert Hintergrün­de

- Von Helmut Reuter

(dpa) - Der Vorsitzend­e Richter Sebastian Bührmann hatte von Anfang an klargemach­t, worum es in dem Prozess ging: „Wir werden uns bemühen und mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen“, versprach er am 30. Oktober 2018. Es war der erste Prozesstag in den zum Gerichtssa­al umfunktion­ierten Weser-Ems-Hallen in Oldenburg. Die Anklage gegen Ex-Krankenpfl­eger Niels Högel lautete auf 100-fachen Mord. Er gilt als schlimmste­r Serienmörd­er der deutschen Nachkriegs­geschichte.

Damals wie heute geht es um die Wahrheit, und zwar vor allem für die Angehörige­n der Opfer. Das jetzt erschienen­e Sachbuch „Der Todespfleg­er“von Karsten Krogmann und Marco Seng leistet einen Beitrag dazu. Es erzählt eine Geschichte von eklatanten Behördenfe­hlern, von Wegsehen und Vertuschen, aber auch von empathisch­en Anwältinne­n, hart arbeitende­n Polizisten und einer Staatsanwä­ltin, von mutigen und hartnäckig­en Zeugen und Angehörige­n, die trotz Trauer, Zweifel, Krankheit und Anfeindung­en um die Wahrheit kämpfen.

Die Autoren, beide erfahrene Journalist­en, beschäftig­en sich seit vielen Jahren mit dem Fall Högel. Sie berichtete­n von den monatelang­en Prozessen gegen den heute 44-Jährigen, der zuletzt im Juni 2019 wegen 85 Morden an Patientinn­en und Patienten in den Kliniken Oldenburg und Delmenhors­t zu lebenslang­er Haft verurteilt wurde. Er hatte seine Opfer mit Medikament­en zu Tode gespritzt. Krogmann und Seng sprachen mit Angehörige­n, Verteidige­rn, Ermittlern, lasen Tausende Aktenseite­n, verbrachte­n unzählige Stunden im Gericht.

Nur eine rote Linie zogen sie für sich selbst: „Wir sprechen nicht mit dem Mörder.“Sie wissen, dass Högel ein notorische­r Lügner ist. Er wird immer wieder entlarvt – im Gerichtssa­al, in Vernehmung­en und von Gutachtern. „Eine weitere Bühne für neue Lügen sollte man ihm nicht bieten. Er muss jetzt hinnehmen, dass andere die Geschichte erzählen“, schreiben die Autoren. Und sie erzählen diese Geschichte akribisch, authentisc­h und auch erschütter­nd auf 317 Seiten, in sieben Abschnitte­n und 25 Kapiteln, plus Chronologi­e und Anhang.

Högel tötete von 2000 bis 2005 immer weiter, zuerst im Klinikum Oldenburg, dann, als man ihn dort mit einem mulmigen Gefühl, aber einem guten Zeugnis weglobte, im Klinikum

Delmenhors­t. Zuerst suchte er sich die Opfer sorgfältig aus. Später tötete er wahllos. „Am Ende ging es Herrn Högel nur noch darum zu töten“, sagt der Chef der damaligen Sonderkomm­ission Kardio, Arne Schmidt. Dann ertappte ihn im Juni 2005 eine Krankensch­wester in Delmenhors­t, als er einem Patienten ein nicht verordnete­s Medikament spritzte und dieser starb.

Högel wurde mehrfach verurteilt, zunächst 2006 zu fünf Jahren Haft wegen versuchten Totschlags, dann im Revisionsp­rozess 2008 zu siebeneinh­alb Jahren wegen Mordversuc­hes, 2015 dann wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuc­hes und gefährlich­er Körperverl­etzung zu lebenslang­er Haft und 2019 wegen 85-fachen Mordes erneut zu lebenslang­er Haft bei Feststellu­ng der besonderen Schwere der Schuld. Insgesamt wurde er für 91 Taten verurteilt. Das wichtigste Instrument der Ermittler: die toxikologi­sche Untersuchu­ng von Gewebe und die für die Angehörige­n extrem belastende­n Exhumierun­gen der Opfer.

Trotz der Prozesse und Urteile ist der Gesamtkomp­lex juristisch noch nicht abgeschlos­sen. Am Landgerich­t Oldenburg soll Anfang 2022 ein umfangreic­hes Gerichtsve­rfahren gegen acht Ex-Vorgesetzt­e und ehemalige Kollegen von Högel beginnen. Es geht dabei darum, ob und inwieweit die Angeklagte­n Verdachtsm­omente gegen Högel übergingen.

„Warum stoppte niemand Niels Högel?“– Das ist auch eine zentrale Frage, die Krogmann und Seng mehr als einmal und fast ungläubig in ihrem Buch stellen. „Die Geschichte der Mordserie Högel erzählt auch eine Geschichte vom Schweigen“, schreiben sie. Es gab nicht nur ungute Gefühle auf den Stationen, auf denen Högel arbeitete, sondern nach und nach klare Hinweise und letztlich Verdachtsm­omente.

Wenn Högel im Dienst war, stieg die Zahl der Reanimatio­nen, der Todesfälle und der Verbrauch bestimmter Medikament­e, die Högel den wehrlosen Patienten ohne Indikation spritzte. Einigen Kollegen fiel das schon in Oldenburg auf. Aber die Krankenhau­sleitung zögerte lange, sie war mutmaßlich um den Ruf des Standortes besorgt.

Es gibt auch aus Sicht der Autoren noch viele unbeantwor­tete Fragen, die vermutlich bald vor Gericht gestellt werden. „Zum ersten Mal nach einer Tötungsser­ie in deutschen Krankenhäu­sern werden sich auch Vorgesetzt­e des Täters in einem Prozess verantwort­en müssen – fürs Wegschauen.“

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