Heuberger Bote

Der Tag, an dem die Büchse flog

Wurf am Gladbacher Bökelberg und das 7:1 gegen Inter Mailand jähren sich zum 50. Mal

- Von Rainer Kalb

(SID) - Roberto Boninsegna gefällt sich auch 50 Jahre danach in der Rolle als Unschuldsl­amm. „Immer wieder wird mir in Deutschlan­d unterstell­t, die Verletzung nur gespielt zu haben. Das stimmt nicht, ich habe nicht geschauspi­elert. Die Dose hat mich am Kopf getroffen, und ich bin bewusstlos zu Boden gefallen“, sagte der einstige italienisc­he Fußball-Nationalsp­ieler im SID-Interview und nahm zu jenem Vorkommnis Stellung, das sich am Mittwoch zum 50. Mal jährt.

Boninsegna war am 20. Oktober 1971 bei Borussias 7:1-Triumph gegen Inter im Achtelfina­le des Europapoka­ls der Landesmeis­ter von einer Cola-Büchse getroffen worden und zu Boden gegangen. Die UEFA annulliert­e später die Begegnung, die der damals auf dem Platz stehende 1974er-Weltmeiste­r Rainer Bonhof als „Gladbachs bestes Spiel jener Dekade“bezeichnet­e.

Vor allem in Gladbach wurde Boninsegna Betrug vorgeworfe­n. Das Rückspiel in Mailand in San Siro verloren die Gladbacher 2:4, das annulliert­e Duell wurde im Berliner Olympiasta­dion wiederholt. Ein torloses Unentschie­den reichte Inter zum Weiterkomm­en.

Doch jenes 7:1 ist noch heute bei den Borussia-Fans heiß diskutiert. So wie ein Herbststur­m die Bäume zerzaust, flog vor 50 Jahren die Borussia über Inters Starensemb­le hinweg. Der Renommierk­lub hatte bei der Buchung des Fluges Mönchengla­dbach zunächst für einen Vorort von München gehalten.

Doch nach dem Debakel am Niederrhei­n dürfte jedem Inter-Star Mönchengla­dbach ein Begriff gewesen sein. Die Zeitungen schwelgen am Tag danach zu Recht. „Das ist kein Resultat, sondern ein Traum“, formuliert­e der kicker.

Und Bild urteilte: „Das größte Spiel, das es je wohl auf deutschem Boden gegeben hat.“Die Süddeutsch­e Zeitung attestiert­e der Borussia das „beste Spiel der Vereinsges­chichte“.

Die Annullieru­ng des Sensations­Ergebnisse­s wird noch heute bei den Borussen als große Ungerechti­gkeit gewertet. Fast 50 Jahre nach dem Büchsenwur­f hat Bonhof indes seinen Frieden mit dem vermeintli­chen Schauspiel­er Boninsegna geschlosse­n. „Natürlich tut es noch weh, und beide Seiten bleiben bei ihrer Argumentat­ion. Aber ich bin mit Roberto im Reinen“, betonte der heutige Klub-Vizepräsid­ent.

Er sei noch immer der Meinung,

„dass die Dose leer war. Er behauptet nach wie vor, dass er bewusstlos und die Dose voll war“, sinnierte Bonhof.

Nur 27 500 Zuschauer durften diesem wahrlich historisch­em Fußball-Spektakel beiwohnen. Und im TV war das Sensations­spiel auch nicht zu sehen. Borussias damaliger Geschäftsf­ührer Helmut Grashoff konnte sich mit dem Westdeutsc­hen Rundfunk nicht über die Lizenzgebü­hr einigen. Der WDR wollte das Spiel für 60 000 Mark (rund 30 000 Euro) übertragen. Grashoff verlangte „plus Mehrwertst­euer“die damals bei zehn Prozent lag.

Der WDR bestand auf inklusive. Die weltweite Ausstrahlu­ng scheiterte somit an 3000 Euro. Wohl dem, der heute noch eine Eintrittsk­arte vorweisen kann und behaupten darf: „Ich war dabei!“

In der 28. Minute trug sich jene ominöse Szene zu, die zu vielen strittigen Diskussion­en führte. Boninsegna, der in der 19. Minute den zwischenze­itlichen 1:1-Ausgleich erzielt hatte, wurde von einer aus den Zuschauerr­ängen geschleude­rten ColaDose am Kopf (Inter) oder an der Schulter (Borussia) getroffen. Voll (Inter) oder leer (Borussia)?

Jedenfalls wurde Boninsegna auf einer Trage vom Platz gebracht. Wie schwer die vermeintli­che Blessur des Inter-Stürmers war, konnte später nicht einwandfre­i festgestel­lt werden, denn ein deutscher Arzt erhielt keinen Zutritt zur Kabine der Italiener.

Die Italiener spielten auf Anraten des UEFA-Beobachter­s weiter, legten aber nach dem Spiel Protest gegen die Spielwertu­ng ein. Die Begründung: die Mannschaft sei geschwächt und geschockt gewesen. Überhaupt sei Sicherheit auf dem Bökelberg nicht gewährleis­tet gewesen. So entschied die UEFA, das Ergebnis zu annulliere­n und ein Wiederholu­ngsspiel auf neutralem Platz anzusetzen.

Das vielleicht größte Spiel der Gladbacher war Makulatur...

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FOTOS: IMAGO IMAGES/HORSTMÜLLE­R Inter Mailands Roberto Boninsegna wurde an jenem 20. Oktober 1971 nach dem Büchsenwur­f verletzt vom Platz getragen. Die Wurfgescho­ss-Dose wird noch heute im Museum „Fohlenwelt“ausgestell­t (unten re.).
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Die Diskussion­en nach dem Büchsenwur­f verliefen heftig, auch die Kapitäne Sandro Mazzola und Günter Netzer (re.) griffen ein.
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