Die Truckerkrise
Experten warnen vor Versorgungslücken, weil auch hierzulande Zehntausende Lkw-Fahrer fehlen – Der Job ist jedoch schwer und leidet unter seinem schlechten Ruf
- Wenn Siegfried Katen mit Cowboyhut und offener Weste aus dem Fahrerhaus seines Lastwagens steigt, scheint sich ein Klischee zu erfüllen, beziehungsweise eine längst vergangene Zeit wiederaufzuleben. Zwischen den Fingern hält er lässig eine Kippe und selbst sein Gang wirkt etwas o-beinig. Katen steuert aber keinen Saloon an, sondern das Allgäu Stübchen auf dem Autohof Aichstetten bei Leutkirch. „Ich liebe Western und ich liebe Countrymusik“, bestätigt der sympathische 54-Jährige mit ruhiger Stimme das Augenscheinliche. Seine Leidenschaft für den Wilden Westen und die Lieder von Dolly Parton führen bei dem Lkw-Fahrer aber nicht zu falscher Romantik oder einem verklärten Blick auf sein Leben auf der Autobahn. Im Gegenteil: „Wir Fahrer haben keine Lust mehr“, erklärt Katen. „Die Stimmung ist kaputt, da können sie hinschauen, wo sie wollen. Nicht nur in England.“
In Großbritannien spielen sich seit Wochen abenteuerliche Szenen ab, die Supermarktregale leeren sich schneller, als sie sich füllen, lange Autoschlangen bilden sich vor den Tankstellen, sofern diese überhaupt öffnen, denn vielerorts fehlt es an Sprit. Die Versorgungsengpässe sollen noch Monate andauern und entstehen, weil es an Lastwagenfahrern mangelt, was nicht zuletzt am EU-Austritt liegt. Die Bilder von der Insel, die wie aus einem Katastrophengebiet anmuten, sorgen hierzulande für Kopfschütteln und auch Schadenfreude, gemäß „selber Schuld, ihr wolltet ja den Brexit“. Diese Häme kommt in der Logistikbranche jedoch kaum auf, dazu sind die eigenen Probleme viel zu ähnlich.
So warnt Dirk Engelbrecht, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterverkehr Logistik und Entsorgung, im Deutschlandfunk: „Wir schlittern in einen schleichenden Versorgungskollaps hinein.“In Deutschland fehlen laut Engelbrecht schon jetzt bis zu 80 000 Lastwagenfahrer, zudem gehen jedes Jahr rund 30 000 in Rente, es werden aber nur 15 000 neue ausgebildet – dem Gewerbe geht der Nachwuchs aus. „Und es wird jedes Jahr schlimmer, weil es immer schwerer wird, Fachpersonal zu finden.“
Um den Fahrern eine stärkere Stimme zu geben, hat sich erst vor wenigen Monaten der Bundesverband Logistik und Verkehr (BLVpro) gegründet, dessen Vorsitzender Sigo Schmeiduch der „Schwäbischen Zeitung“die Diagnose bestätigt: „Der ganze Markt ist hinüber.“Viele Logistiker hätten schon jetzt Probleme, die Waren pünktlich von A nach B zu liefern, obwohl die Folgen der Corona-Krise das Geschäft derzeit noch ausbremsen. Autoindustrie, Messen und Konzerte laufen jedoch wieder an, und alle sind angewiesen auf ein funktionierendes Transportwesen, dem es aber an Fahrern fehlt. „Nächstes Jahr bekommen wir das ganz böse Erwachen“, prophezeit Schmeiduch.
Dabei gab es tatsächlich einmal Zeiten, in denen Fernstraßen für Freiheit standen, für die Überwindung von Grenzen und die erfüllte Sehnsucht, aus der Provinz und der eigenen Enge auszubrechen. Manches mag schon damals Klischee gewesen sein, aber eben nicht alles, weshalb es auch genügend Trucker gab, die diesen Traum Tag für Tag lebten. Die, während andere brav zur Arbeit pendelten, wochenlang in die Sonne Südeuropas und noch weiter fuhren. Die schon damals gerne Johnny Cash hörten oder Gunter Gabriel, der 1973 seinen ersten Hit herausbrachte: „Er ist ein Kerl (der 30 Tonner Diesel)“, nur ein Jahr später folgte sein größter Hit „Hey Boss – Ich brauch mehr Geld“. Während Letzteres als zeitlose und branchenübergreifende Botschaft gelten darf, ist vom Gefühl der grenzenlosen Freiheit kaum etwas geblieben, auch nicht bei Western-Fan Siegfried Katen.
Der Brummifahrer lebt in der Nähe von Bremen, seinen LkwFührerschein hat er einst bei der Bundeswehr gemacht. Zunächst versuchte er sein Glück als Versicherungsmakler, weil das nach einer Weile schiefging, heuerte er als Lastwagenfahrer an, durchquerte jahrelang den Kontinent. Bis er eines Nachts in Frankreich ausgeraubt wurde. „Da stand ich bei Lyon und konnte nicht einmal die Maut bezahlen.“Frustriert und geschockt von der Tat gab er die Fahrerei zunächst auf, wechselte in den Außendienst, ein Job, der angesichts der Konkurrenz durch das Internet aber immer prekärer wurde. Nun ist Katen zurück auf der Straße, den Cowboyhut auf dem Kopf, Dolly Parton im Ohr und vieler Illusionen beraubt. „Die Bedingungen sind miserabel“, sagt er. „Wir finden ja nicht einmal mehr Parkplätze.“
Jeder kennt die Bilder, wie ab dem Nachmittag die Trucks im Schleichtempo auf die Raststätten und Parkplätze rollen, in der Hoffnung auf eine freie Lücke, dabei zwangsläufig Zufahrten und Fahrbahnen blockieren. Nicht anders sieht es in den Gewerbegebieten aus, wo oft absolutes Halteverbot herrscht, wo freie Flächen gezielt mit Pollern zugebaut werden. Als ob die Lastwagenfahrer sich nach pünktlicher Anlieferung der Waren in Luft auflösen könnten.
Fehlen den vermeintlichen Störenfrieden aber die Haltemöglichkeiten, dann fehlt es ihnen auch an Versorgungsmöglichkeiten. „Wo wir noch einkaufen können, sind die Autohöfe – und da zahlen wir das vier- oder fünffache der üblichen Preise“, sagt Katen. In der Not muss es schon mal eine Bockwurst und ein Kaffee tun, für jeweils satte vier Euro. Das tut weh, genauso wie ein anderer Kostenfaktor: „Lastwagenfahrer sind die einzige Berufsgruppe, die für einen Toilettengang Geld bezahlen muss.“Ganz zu schweigen von einer Dusche, die auf vielen Rastplätzen gänzlich fehlt.
Die mangelhaften Hygienebedingungen für Menschen, die auf der Straße arbeiten und in ihrer Fahrerkabine wohnen, sind schon lange ein Thema. Die Kritik geht aber auch in die andere Richtung. Der Grund dafür lässt sich an diesem Nachmittag in Aichstetten beobachten, als ein Lkw-Fahrer aus dem Rasthof trottet, an den Füßen Badelatschen und weiße Tennissocken, die kurze Baumwollhose und das T-Shirt sind zerknautscht, in der
Hand hält er einen Karton mit Pizza. Guten Appetit. Dass bei diesem Anblick Kinder und Jugendliche nicht ausrufen: „Ich will Brummifahrer werden!“, weiß auch der BLV-Vorsitzende Schmeiduch. „An ihrem schlechten Ruf sind die Fahrer zum Teil selber schuld.“
Das liegt aber nicht nur an ihrem Verhalten abseits der Straßen, wie der Lastwagenfahrer Christoph Brinker erläutert. „Auf den Autobahnen herrscht Krieg“, sagt der 55-Jährige aus dem Sauerland am Telefon. Brinker hat 30 Jahre Schmiedeteile nach Bayern und über Gotthard und Brenner in den Süden transportiert und staunt manchmal selber über das heutige Chaos auf den Straßen. „Es wird gefahren auf Teufel komm raus. Die schalten die Assistenzsysteme aus, fahren auf fünf Meter auf, liefern sich Elefantenrennen, zeigen sich beim Überholen den Stinkefinger und blockieren in der Baustelle die Pkws. Katastrophen und Unfälle sind da vorprogrammiert.“So rücksichtslos verhalten sich nur wenige, die reichen aber aus, um den Ruf vieler zu ruinieren.
Schuld an den Zuständen sind laut Brinker ohnehin nicht allein die Fahrer. „Der Verkehr hat in den vergangenen zehn Jahren enorm zugenommen.“Und steht dabei nicht selten still. So summierte sich die Staulänge in Deutschland im Jahr 2018 auf einen Rekordwert von mehr als 1,5 Millionen Kilometer, in Baden-Württemberg waren es 207 000, in Bayern sogar 275 000. Darunter fast täglich extrem lange Staus, die einst eine Seltenheit waren. Die enormen Wartezeiten in den Blechlawinen setzen die Fahrer unter Druck, genauso wie die allgegenwärtige Digitalisierung. „Die Disponenten waren früher davon abhängig, dass sich der Fahrer eine Telefonzelle sucht, um sich zu melden“, erklärt Brinker. Heute gibt es Handy, GPS-Überwachung und Bordcomputer, um den Lenker pausenlos von Ort zu Ort zu lotsen. Der größte Druck auf die Branche geht jedoch von den osteuropäischen Flotten aus, die ihr Personal zu Dumpingpreisen beschäftigen. Während ein deutscher Fahrer ungefähr 2500 Euro brutto verdient, erhält ein osteuropäischer Fahrer meist den Mindestlohn seines Landes, in Litauen sind das derzeit 3,93 Euro, in Rumänien 2,84 Euro, einen Zuverdienst ermöglichen diverse Zulagen.
Aber könnte angesichts der hiesigen Gehälter Großbritannien jetzt ein lohnendes Ziel werden? Das Vereinigte Königreich lockt mit Offerten und will seine Grenzen bis März 2022 für williges Personal öffnen. Ein rumänischer Fahrer mit
Bamberger Kennzeichen, der in Aichstetten seinen Diesel volltankt, winkt ab. „Ich bin früher in England gefahren“, sagt der 33-Jährige. „Da wird man aber nicht gut behandelt, weil man einen Job macht, den die Einheimischen selber nicht machen wollen.“Auch Christoph Brinker glaubt nicht an eine Fahrerwelle auf die Insel. „Da geht keiner für ein paar Monate hin, um anschließend arbeitslos zu sein.“Außerdem bleibt unvergessen, dass vergangenes Weihnachten 10 000 Lastwagen bei Dover und Calais festsaßen, weil die Grenzen plötzlich dicht gemacht wurden. „Das haben viele deutsche Fahrer nicht verziehen.“
Aber auch ohne Abwanderung leidet die Branche hierzulande schon jetzt unter dem Personalmangel. Etwas Hoffnung macht der Mobilitätspakt, den die Europäische Kommission verabschiedet hat, der Fahrerrechte und Wochenruhezeiten regelt, und mittelfristig die Beschäftigung ankurbeln soll. Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), dessen Großvater eine Spedition besaß, appellierte dagegen bereits vor Jahren an die Selbstinitiative der Branche. „Den Berufsgruppen, die am wenigsten organisiert sind, geht es immer am schlechtesten“, sagte Hermann schon damals. Fahrer wie auch Unternehmer müssten sich zusammentun, um höhere Preise und bessere Löhne durchzusetzen. Der neue BLV-pro mag da der richtige Schritt sein, auch wenn Lkw-Fahrer Brinker auf einen anderen Effekt setzt: „In der deutschen Gesellschaft kommen unsere Nöte erst an, wenn es im Supermarkt keinen Zucker und keine Milch mehr gibt. Und da stehen wir kurz davor.“
An Siegfried Katen wird es dann aber nicht liegen, der will weiter mit seinem Truck Lebensmittel durch die Lande transportieren. „Mir macht der Job ja trotzdem Spaß“, sagt der 54-Jährige. „Das ist keine eintönige Arbeit, es gibt immer Abwechslung und neue Routen. Außerdem bin ich unabhängig und sitze nicht im Büro.“Nach Wildem Westen klingt das zwar nicht, aber immerhin nach einem Funken Freiheit.
„In der deutschen Gesellschaft kommen unsere Nöte erst an, wenn es im Supermarkt keinen Zucker und keine Milch mehr gibt.“
Lkw-Fahrer Christoph Brinker