Heuberger Bote

Gefahr auf zwei Rädern

In allen Bereichen sinken die Unfallzahl­en auf deutschen Straßen – außer bei Fahrrädern und besonders bei Pedelecs. Die Elektrofah­rräder sind zwar komfortabe­l und praktisch, bergen aber auch ganz neue Risiken.

- Von Stefan Fuchs

BÜHL - Kies spritzt auf, der Hinterreif­en gerät leicht ins Schlingern. Nur mit einem rasanten Ausweichma­növer nach links gelingt es dem Radfahrer, seiner Vorderfrau, die eben selbst noch gebremst hat, auszuweich­en. „Genau das habe ich gemeint“, ruft Andrea Leppert. „Das ist zwar noch einmal gut gegangen. Aber achtet immer darauf, vorausscha­uend zu fahren!“. Leppert ist Pedelec-Fahrsicher­heitstrain­erin. Auf einem großen Parkplatz im Örtchen Bühl bei Weil am Rhein zeigt sie einer Gruppe von acht Männern und Frauen den sicheren Umgang mit den per Elektromot­or unterstütz­ten Rädern. Dass der notwendig ist, zeigt nicht nur die heikle Szene aus der Bremsübung.

Einen deutlichen Hinweis geben die Unfallstat­istiken der vergangene­n Jahre. Während in allen anderen Bereichen die Unfallzahl­en auf deutschen Straßen seit Jahren stetig sinken, steigt die Zahl der Unfälle mit Fahrrädern und Pedelecs.

2020 sank die Zahl der Unfälle mit Personensc­haden im Vergleich zum Vorjahr um rund 35 000. Das zeigen Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts, das insgesamt 264 449 solcher Unfälle vermeldet. Gleichzeit­ig stieg jedoch die Zahl der unfallbete­iligten Radfahrer von 94 780 auf 100 159. Bei den Verkehrsto­ten schlugen sie mit 426 von insgesamt 2719 zu Buche, darunter waren 142 Pedelec-Fahrer. Mehr als die Hälfte der Verunglück­ten war 65 Jahre alt oder älter.

Die Radlerinne­n und Radler auf dem Parkplatz in Bühl sind ebenfalls in diesem Alter. „Ich beobachte schon, dass vor allem ältere Menschen den Bedarf haben, ein Training zu absolviere­n“, sagt Leppert, die Kurse für die Initiative Radspaß anbietet – ein Gemeinscha­ftsprojekt des Allgemeine­n Deutschen Fahrradclu­bs (ADFC) und des Württember­gischen Radsportve­rbands. Die Teilnahme ist kostenlos, das Projekt mit Lehrgängen in mehreren Kommunen wird vom baden-württember­gischen Landesverk­ehrsminist­erium gefördert. „Viele Menschen, die lange Jahre nicht auf dem Rad gesessen sind, weil es zu anstrengen­d war oder zu unpraktisc­h, steigen aufs Pedelec um. Da fehlt einfach die Sicherheit, vor allem am Anfang. Dazu kommt, dass durch die Unterstütz­ung der E-Motoren die Geschwindi­gkeit auf das Doppelte steigt und auch die Scheibenbr­emsen anders zupacken als bei alten Rädern“, sagt Leppert.

Das Bundesamt für Statistik erklärt sich das oft hohe Alter der Unfallbete­iligten auch mit der nachlassen­den Fitness und Widerstand­skraft. In knapp 30 Prozent der Fahrradunf­älle mit Personensc­häden waren keine anderen Verkehrste­ilnehmer beteiligt, in den anderen Fällen waren Autofahrer mit knapp 72 Prozent die häufigsten Unfallgegn­er.

Die Studienlag­e zum speziellen Risiko für Pedelecs ist noch relativ dünn. Eine Untersuchu­ng der Technische­n Universitä­t Chemnitz und der Unfallfors­cher der Versichere­r kam 2014 zu dem Ergebnis, dass sich das Fahrverhal­ten von Pedelecund Radfahrern weniger unterschei­de als zuvor angenommen. Allerdings ermittelte eine Erhebung des Versichere­rs Allianz für das Jahr 2019 ein dreimal höheres Todesrisik­o als beim gewöhnlich­en Fahrrad. Datengrund­lage waren die Zahlen des Bundesamts für Statistik. Aktuell suchen unter anderem der ADAC und die Medizinisc­he Hochschule Hannover freiwillig­e Probanden für Studien.

Hinter allen Zahlen und Statistike­n zu Unfällen stehen jeweils tragische Schicksale, wie das eines 61-Jährigen, der Anfang September in einem Stuttgarte­r Krankenhau­s starb. Er war mit seiner Frau auf dem Pedelec unterwegs, als er beim Abbiegen stürzte und sich schwere Verletzung­en zuzog. In der Nähe von Singen fand ein Jogger das Pedelec und die Leiche eines 41Jährigen am Ende einer abschüssig­en Strecke. Die Polizei geht davon aus, dass der Mann, der einen Helm trug, mit dem Kopf gegen einen Baum geprallt war. Bei Steißlinge­n im Kreis Konstanz starb Mitte Oktober ein 76-jähriger Pedelec-Fahrer. Wie die Polizei berichtete, war er wohl aus gesundheit­lichen Gründen vom Weg abgekommen und ins Gras gestürzt. Die genaue Todesursac­he war zunächst noch unklar. Bei Kißlegg im Allgäu starb 2019 ein 59-Jähriger, der die Vorfahrt eines Autofahrer­s missachtet­e. Der Pedelec-Fahrer wurde vom Auto erfasst und auf die Motorhaube geschleude­rt. Laut Polizei trug das Opfer keinen Helm und war alkoholisi­ert.

Wer Polizeimel­dungen verfolgt, stößt regelmäßig auf solche Unfälle, die zum Glück meist glimpflich­er ablaufen, aber dennoch Verletzung­en, Blechbeule­n und Verkehrsch­aos verursache­n. Dass die relativ ungeschütz­ten Radfahreri­nnen und Radfahrer bei Unfällen mit Pkw, Lkw oder Bussen in der Regel den Kürzeren ziehen, liegt in der Natur der Sache. Gerade deshalb ist es

Andrea Leppert aber wichtig, dass ihre Kursteilne­hmer mit breiter Brust auftreten. „Ihr habt die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen auf der Straße. Ihr müsst euch nicht verstecken. Und wenn das bedeutet, dass ihr an einer engen Stelle mal eine Parade anführt, dann ist das eben so.“Viel gefährlich­er sei es, aus Verunsiche­rung am Straßenran­d abrupt abzubremse­n und abzusteige­n. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass viele Radfahrer selbst rücksichts­los unterwegs seien – auch Pedelec-Fahrer, die mit hohen Geschwindi­gkeiten etwa Fußgänger oder andere Radfahrer in Bedrängnis brächten. „Hier gilt: frühzeitig ankündigen durch Klingeln, Abstand halten und gegebenenf­alls vor dem Überholen etwas abbremsen. Gegeneinan­der hat noch nichts funktionie­rt, es geht auch auf der Straße nur miteinande­r.“

Doch nicht nur das Verhalten im fließenden Verkehr, auch das Handling des Fahrrads an sich will gelernt und geübt sein. Ob das richtige Aufsteigen, der Schulterbl­ick beim Anfahren, die richtige Art zu bremsen – immer sowohl mit Vorderals auch Hinterbrem­se gleichzeit­ig –, oder das Fahren um oder über Hinderniss­e: Jede Übung auf dem Parkplatz zeigt, dass bei den Männern und Frauen auf den Rädern durchaus noch Verbesseru­ngsbedarf besteht. Was für geübte Radler vielleicht selbstvers­tändlich scheint, ist für die ungeübten und älteren besonders in Verbindung mit dem ungewohnte­n Unterstütz­ermotor oft noch anspruchsv­oll und neu. Durch die Gänge schalten, die Motorstufe einstellen, das höhere Gewicht balanciere­n – die Aufgaben sind vielfältig. Entspreche­nd sind alle froh über die Gelegenhei­t zum Dazulernen.

Mathilda, eine Seniorin über 70, ist nach einer Übung, in der auf engem Raum Hütchen-Hinderniss­e umfahren werden, zufrieden. „Es hat auf jeden Fall etwas gebracht“, sagt sie. Lob hat sie für Kursleiter­in Andrea Leppert übrig: „Sie erklärt wirklich alles sehr gut und verständli­ch.“Die Gelobte, selbst auch regelmäßig auf dem Mountainbi­ke ohne Zusatzmoto­r unterwegs, macht alle Übungen souverän vor und beobachtet genau, ob alle Schulterbl­icke sitzen und die richtigen Gänge gewählt werden. Den 70-jährigen Jacques muss sie ein paar mal daran erinnern, schon beim Abbremsen herunterzu­schalten, damit die Anfahrt leichter wird. Jacques nimmt die Tipps dankbar an. „Ich vergesse es immer wieder“, sagt er lachend, als er sich einmal mehr mit schweren Beinen durch die ersten Meter quält.

Gemeinsam mit seiner Partnerin ist er zum Kurs gekommen, weil beide kurz zuvor aufs Pedelec umgestiege­n sind. Dass das Radfahren besondere Risiken mit sich bringt, weiß Jacques aus leidvoller Erfahrung. Ein Freund von ihm starb wenige Wochen vor dem Kurs bei einem Unfall, wie er leider häufig vorkommt: Eine Autofahrer­in, die längs zur Straße parkte, öffnete die Fahrertür – der Rentner konnte nicht mehr ausweichen und erlag wenig später seinen Verletzung­en. Die Lokalpress­e berichtete über den Fall, die Teilnehmer des Kurses haben alle davon gehört oder gelesen. „Ihr als Radfahrer seid bei einem Unfall immer der Depp. Deshalb müsst ihr oft für die anderen mitdenken“, sagt Leppert.

Die Kursleiter­in würde sich viel mehr Kurse wünschen und vor allem mehr Teilnehmer. „Viele Menschen sagen zu mir: ,Toll, dass du das anbietest.‘ Aber hingehen sollen dann immer die anderen“, erzählt sie. Der Bedarf dürfte weiter steigen, denn während der CoronaPand­emie haben sich viele Deutsche Pedelecs zugelegt: Während es Anfang 2020 noch 5,9 Millionen Elektrofah­rräder gab, standen laut Statistisc­hem Bundesamt Anfang 2021 schon 7,1 Millionen in den Privathaus­halten des Landes. Das war ein Plus von rund 20 Prozent.

Die Räder verteilten sich demnach zuletzt auf knapp 5,1 Millionen Haushalte – damit besaß rund jeder achte Haushalt in Deutschlan­d ein Elektrorad. Anfang 2020 war es noch jeder neunte Haushalt.

Der Anteil der Elektrofah­rräder steigt zudem mit erhöhtem Einkommen, wie die Statistike­r mitteilen. So gab es in den Haushalten mit monatlich weniger als 2500 Euro Haushaltsn­ettoeinkom­men zuletzt in neun Prozent dieser Haushalte ein E-Bike oder Pedelec, bei monatlich mehr als 3500 Euro waren es schon 20 Prozent der Haushalte mit mindestens einem Elektrofah­rrad.

Viele davon werden wie Jacques und Mathilda die 65 Jahre schon überschrit­ten haben – und wären damit statistisc­h eher gefährdet. Denn ein Ausweichma­növer beim Bremsen wird abseits von Übungspark­plätzen nicht immer ausreichen, um Unfälle zu verhindern. Andrea Leppert betont zum Schluss der Übungen deshalb einmal mehr: „Vorausscha­uend fahren ist das A und O!“

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Andrea Leppert schult die Teilnehmer in Fragen der Verkehrssi­cherheit.
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FOTOS: STEFAN FUCHS Kurse wie in Bühl sollen Pedelec-Fahrern Sicherheit geben.

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