Gefahr auf zwei Rädern
In allen Bereichen sinken die Unfallzahlen auf deutschen Straßen – außer bei Fahrrädern und besonders bei Pedelecs. Die Elektrofahrräder sind zwar komfortabel und praktisch, bergen aber auch ganz neue Risiken.
BÜHL - Kies spritzt auf, der Hinterreifen gerät leicht ins Schlingern. Nur mit einem rasanten Ausweichmanöver nach links gelingt es dem Radfahrer, seiner Vorderfrau, die eben selbst noch gebremst hat, auszuweichen. „Genau das habe ich gemeint“, ruft Andrea Leppert. „Das ist zwar noch einmal gut gegangen. Aber achtet immer darauf, vorausschauend zu fahren!“. Leppert ist Pedelec-Fahrsicherheitstrainerin. Auf einem großen Parkplatz im Örtchen Bühl bei Weil am Rhein zeigt sie einer Gruppe von acht Männern und Frauen den sicheren Umgang mit den per Elektromotor unterstützten Rädern. Dass der notwendig ist, zeigt nicht nur die heikle Szene aus der Bremsübung.
Einen deutlichen Hinweis geben die Unfallstatistiken der vergangenen Jahre. Während in allen anderen Bereichen die Unfallzahlen auf deutschen Straßen seit Jahren stetig sinken, steigt die Zahl der Unfälle mit Fahrrädern und Pedelecs.
2020 sank die Zahl der Unfälle mit Personenschaden im Vergleich zum Vorjahr um rund 35 000. Das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts, das insgesamt 264 449 solcher Unfälle vermeldet. Gleichzeitig stieg jedoch die Zahl der unfallbeteiligten Radfahrer von 94 780 auf 100 159. Bei den Verkehrstoten schlugen sie mit 426 von insgesamt 2719 zu Buche, darunter waren 142 Pedelec-Fahrer. Mehr als die Hälfte der Verunglückten war 65 Jahre alt oder älter.
Die Radlerinnen und Radler auf dem Parkplatz in Bühl sind ebenfalls in diesem Alter. „Ich beobachte schon, dass vor allem ältere Menschen den Bedarf haben, ein Training zu absolvieren“, sagt Leppert, die Kurse für die Initiative Radspaß anbietet – ein Gemeinschaftsprojekt des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) und des Württembergischen Radsportverbands. Die Teilnahme ist kostenlos, das Projekt mit Lehrgängen in mehreren Kommunen wird vom baden-württembergischen Landesverkehrsministerium gefördert. „Viele Menschen, die lange Jahre nicht auf dem Rad gesessen sind, weil es zu anstrengend war oder zu unpraktisch, steigen aufs Pedelec um. Da fehlt einfach die Sicherheit, vor allem am Anfang. Dazu kommt, dass durch die Unterstützung der E-Motoren die Geschwindigkeit auf das Doppelte steigt und auch die Scheibenbremsen anders zupacken als bei alten Rädern“, sagt Leppert.
Das Bundesamt für Statistik erklärt sich das oft hohe Alter der Unfallbeteiligten auch mit der nachlassenden Fitness und Widerstandskraft. In knapp 30 Prozent der Fahrradunfälle mit Personenschäden waren keine anderen Verkehrsteilnehmer beteiligt, in den anderen Fällen waren Autofahrer mit knapp 72 Prozent die häufigsten Unfallgegner.
Die Studienlage zum speziellen Risiko für Pedelecs ist noch relativ dünn. Eine Untersuchung der Technischen Universität Chemnitz und der Unfallforscher der Versicherer kam 2014 zu dem Ergebnis, dass sich das Fahrverhalten von Pedelecund Radfahrern weniger unterscheide als zuvor angenommen. Allerdings ermittelte eine Erhebung des Versicherers Allianz für das Jahr 2019 ein dreimal höheres Todesrisiko als beim gewöhnlichen Fahrrad. Datengrundlage waren die Zahlen des Bundesamts für Statistik. Aktuell suchen unter anderem der ADAC und die Medizinische Hochschule Hannover freiwillige Probanden für Studien.
Hinter allen Zahlen und Statistiken zu Unfällen stehen jeweils tragische Schicksale, wie das eines 61-Jährigen, der Anfang September in einem Stuttgarter Krankenhaus starb. Er war mit seiner Frau auf dem Pedelec unterwegs, als er beim Abbiegen stürzte und sich schwere Verletzungen zuzog. In der Nähe von Singen fand ein Jogger das Pedelec und die Leiche eines 41Jährigen am Ende einer abschüssigen Strecke. Die Polizei geht davon aus, dass der Mann, der einen Helm trug, mit dem Kopf gegen einen Baum geprallt war. Bei Steißlingen im Kreis Konstanz starb Mitte Oktober ein 76-jähriger Pedelec-Fahrer. Wie die Polizei berichtete, war er wohl aus gesundheitlichen Gründen vom Weg abgekommen und ins Gras gestürzt. Die genaue Todesursache war zunächst noch unklar. Bei Kißlegg im Allgäu starb 2019 ein 59-Jähriger, der die Vorfahrt eines Autofahrers missachtete. Der Pedelec-Fahrer wurde vom Auto erfasst und auf die Motorhaube geschleudert. Laut Polizei trug das Opfer keinen Helm und war alkoholisiert.
Wer Polizeimeldungen verfolgt, stößt regelmäßig auf solche Unfälle, die zum Glück meist glimpflicher ablaufen, aber dennoch Verletzungen, Blechbeulen und Verkehrschaos verursachen. Dass die relativ ungeschützten Radfahrerinnen und Radfahrer bei Unfällen mit Pkw, Lkw oder Bussen in der Regel den Kürzeren ziehen, liegt in der Natur der Sache. Gerade deshalb ist es
Andrea Leppert aber wichtig, dass ihre Kursteilnehmer mit breiter Brust auftreten. „Ihr habt die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen auf der Straße. Ihr müsst euch nicht verstecken. Und wenn das bedeutet, dass ihr an einer engen Stelle mal eine Parade anführt, dann ist das eben so.“Viel gefährlicher sei es, aus Verunsicherung am Straßenrand abrupt abzubremsen und abzusteigen. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass viele Radfahrer selbst rücksichtslos unterwegs seien – auch Pedelec-Fahrer, die mit hohen Geschwindigkeiten etwa Fußgänger oder andere Radfahrer in Bedrängnis brächten. „Hier gilt: frühzeitig ankündigen durch Klingeln, Abstand halten und gegebenenfalls vor dem Überholen etwas abbremsen. Gegeneinander hat noch nichts funktioniert, es geht auch auf der Straße nur miteinander.“
Doch nicht nur das Verhalten im fließenden Verkehr, auch das Handling des Fahrrads an sich will gelernt und geübt sein. Ob das richtige Aufsteigen, der Schulterblick beim Anfahren, die richtige Art zu bremsen – immer sowohl mit Vorderals auch Hinterbremse gleichzeitig –, oder das Fahren um oder über Hindernisse: Jede Übung auf dem Parkplatz zeigt, dass bei den Männern und Frauen auf den Rädern durchaus noch Verbesserungsbedarf besteht. Was für geübte Radler vielleicht selbstverständlich scheint, ist für die ungeübten und älteren besonders in Verbindung mit dem ungewohnten Unterstützermotor oft noch anspruchsvoll und neu. Durch die Gänge schalten, die Motorstufe einstellen, das höhere Gewicht balancieren – die Aufgaben sind vielfältig. Entsprechend sind alle froh über die Gelegenheit zum Dazulernen.
Mathilda, eine Seniorin über 70, ist nach einer Übung, in der auf engem Raum Hütchen-Hindernisse umfahren werden, zufrieden. „Es hat auf jeden Fall etwas gebracht“, sagt sie. Lob hat sie für Kursleiterin Andrea Leppert übrig: „Sie erklärt wirklich alles sehr gut und verständlich.“Die Gelobte, selbst auch regelmäßig auf dem Mountainbike ohne Zusatzmotor unterwegs, macht alle Übungen souverän vor und beobachtet genau, ob alle Schulterblicke sitzen und die richtigen Gänge gewählt werden. Den 70-jährigen Jacques muss sie ein paar mal daran erinnern, schon beim Abbremsen herunterzuschalten, damit die Anfahrt leichter wird. Jacques nimmt die Tipps dankbar an. „Ich vergesse es immer wieder“, sagt er lachend, als er sich einmal mehr mit schweren Beinen durch die ersten Meter quält.
Gemeinsam mit seiner Partnerin ist er zum Kurs gekommen, weil beide kurz zuvor aufs Pedelec umgestiegen sind. Dass das Radfahren besondere Risiken mit sich bringt, weiß Jacques aus leidvoller Erfahrung. Ein Freund von ihm starb wenige Wochen vor dem Kurs bei einem Unfall, wie er leider häufig vorkommt: Eine Autofahrerin, die längs zur Straße parkte, öffnete die Fahrertür – der Rentner konnte nicht mehr ausweichen und erlag wenig später seinen Verletzungen. Die Lokalpresse berichtete über den Fall, die Teilnehmer des Kurses haben alle davon gehört oder gelesen. „Ihr als Radfahrer seid bei einem Unfall immer der Depp. Deshalb müsst ihr oft für die anderen mitdenken“, sagt Leppert.
Die Kursleiterin würde sich viel mehr Kurse wünschen und vor allem mehr Teilnehmer. „Viele Menschen sagen zu mir: ,Toll, dass du das anbietest.‘ Aber hingehen sollen dann immer die anderen“, erzählt sie. Der Bedarf dürfte weiter steigen, denn während der CoronaPandemie haben sich viele Deutsche Pedelecs zugelegt: Während es Anfang 2020 noch 5,9 Millionen Elektrofahrräder gab, standen laut Statistischem Bundesamt Anfang 2021 schon 7,1 Millionen in den Privathaushalten des Landes. Das war ein Plus von rund 20 Prozent.
Die Räder verteilten sich demnach zuletzt auf knapp 5,1 Millionen Haushalte – damit besaß rund jeder achte Haushalt in Deutschland ein Elektrorad. Anfang 2020 war es noch jeder neunte Haushalt.
Der Anteil der Elektrofahrräder steigt zudem mit erhöhtem Einkommen, wie die Statistiker mitteilen. So gab es in den Haushalten mit monatlich weniger als 2500 Euro Haushaltsnettoeinkommen zuletzt in neun Prozent dieser Haushalte ein E-Bike oder Pedelec, bei monatlich mehr als 3500 Euro waren es schon 20 Prozent der Haushalte mit mindestens einem Elektrofahrrad.
Viele davon werden wie Jacques und Mathilda die 65 Jahre schon überschritten haben – und wären damit statistisch eher gefährdet. Denn ein Ausweichmanöver beim Bremsen wird abseits von Übungsparkplätzen nicht immer ausreichen, um Unfälle zu verhindern. Andrea Leppert betont zum Schluss der Übungen deshalb einmal mehr: „Vorausschauend fahren ist das A und O!“