Verkehrshindernis Deutschland
Die Bundesrepublik kommt vertraglichen Pflichten beim Ausbau internationaler Schienenverbindungen nur langsam nach
- Für eine klimafreundliche Mobilität gilt die Bahn als unverzichtbar – sowohl der Personenals auch der Güterverkehr. Doch bei wichtigen Ausbauprojekten hinkt Deutschland um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, hinterher. Besonders deutlich wird dies bei der Zusammenarbeit mit der Schweiz.
Einen Monat vor der Bundestagswahl verkündete Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) noch einmal eine Erfolgsnachricht: Deutschland und die Schweiz unterzeichneten Ende August einen Vertrag zur Stärkung des Bahnverkehrs. Mehr Tagesund Nachtzugverbindungen im Fernverkehr, ein vertaktetes Fahrplankonzept, Zusammenarbeit bei Forschung und Digitalisierung – die Pressemitteilung aus Berlin zeichnete ein Bild harmonischer Kooperation. „Die Schiene nach vorne zu bringen kostet Kraft“, teilte Scheuer mit. „Umso mehr wissen wir die Zusammenarbeit mit der Schweiz zu schätzen.“
Ob auch die Schweizer die Zusammenarbeit mit Deutschland schätzen, steht auf einem anderen Blatt. Die Pressemitteilung, die Scheuers Schweizer Amtskollegin Simonetta Sommaruga zum selben Anlass herausgegeben hat, klingt etwas anders. Zwar spricht auch die Berner Sozialdemokratin von mehr Nacht- und Regionalzügen. Vor allem aber hält sie fest: „Deutschland bestätigt, sich auch weiterhin dafür einzusetzen, dass die Leistungsfähigkeit der nördlichen Zulaufstrecken zur NEAT gesteigert wird.“NEAT steht für die Neue Eisenbahn-Alpentransversale, ein Schweizer Mammutprojekt zur Verlagerung des Verkehrs über die Alpen von der Straße auf die Schiene. Beim Ausbau der Kapazitäten auf den Zulaufstrecken ist die Schweiz aber auf die Kooperation der Italiener und der Deutschen angewiesen. Aber vor allem die Deutschen liefern viel zu langsam.
Vor 25 Jahren haben Deutschland und die Schweiz den Vertrag von Lugano geschlossen. Darin war festgehalten worden, dass die Schweiz die Hauptstrecken durch die Alpen inklusive Gotthard-, Lötschberg- und Ceneribasistunnel ausbaut, während
Deutschland sich um die Zulaufstrecken von Norden kümmert. Das betrifft vor allem die Rheintalbahn (Karlsruhe-Basel), die als Teil der Strecke Rotterdam-Genua eine der wichtigsten Nord-Süd-Achsen im europäischen Güterverkehr darstellt. Außerdem sollte auf der Gäubahn (Stuttgart-Singen-Zürich) und auf der Allgäubahn (München-Lindau-Zürich) die Reisezeit verkürzt werden.
Das Ergebnis hat Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) kürzlich auf einer Konferenz von Verkehrswissenschaftlern an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen so zusammengefasst: „Die Schweizer haben drei große, teure Tunnel gebaut, die sind jetzt fertig. Wir sollten die Bahn im Rheintal ausbauen und haben nur ein Drittel geschafft. Es ist geradezu peinlich, dass Deutschland so wenig getan hat in diesem Bereich.“Das im August von Scheuer und Sommaruga geschlossene Abkommen ist praktisch das Folgeabkommen für den Vertrag von Lugano. Nötig wurde es wegen des deutschen Bummelzugtempos.
„Deutschland ist 25 Jahre im Verzug“, kritisiert Peter Vollmer, Präsident der Schweizerischen Verkehrsstiftung und langjähriger Parlamentarier in Bern. „Das ist schon ärgerlich.“Solange die Deutschen die Rheintalbahn nicht ausbauen, hilft den Schweizern die mit 11,4 Milliarden Euro erkaufte Kapazitätserweiterung am Gotthard wenig. Für die Eidgenossen ist das auch innenpolitisch ein Problem: Mit der „Alpeninitiative“haben sie schon 1994 per Volksabstimmung beschlossen, den Gütertransport über die Alpen von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Seitdem gilt das Ziel, dass nur noch 650 000 Lastwagen pro Jahr über die Schweizer Alpenpässe fahren sollen und der Rest über die Schiene transportiert wird. Dieses Ziel ist längst nicht erreicht – 2018 waren 941 000 Lastwagen im Alpentransit unterwegs, zehn Jahre vorher waren es noch 1,28 Millionen. Die Zahlen sinken also – den Zielwert zu erreichen, ist aber nur mit einer ausgebauten Rheintalbahn realistisch. „Die Zufahrt muss gewährleistet sein, das ist entscheidend“, bekräftigt Vollmer.
Was der Engpass in der Praxis bedeutet, erläutert Sebastian Hofmann, Leiter Konzepte und Design bei der Schweizer Bundesbahn-Tochter SBB Cargo International. Der Ausbau an Gotthard und Lötschberg mache neun Güterzüge pro Stunde und Richtung möglich. Durch das Rheintal könnten aktuell aber nur vier Güterzüge dorthin fahren. Und selbst mit dem Deutschlandtakt, der eine viergleisige Strecke im Rheintal voraussetze, seien nur 5,5 Güterzüge pro Stunde möglich, schließlich nehme ja auch der Personenverkehr zu. „Ohne zu handeln, müssen wir die nächsten 20 Jahre mit den Kapazitäten leben, die wir haben“, bedauert Hofmann, dessen Unternehmen fast die Hälfte des Schienen-Gütertransports über die Schweizer Alpen abwickelt. Denn der Abschluss des viergleisigen Ausbaus der Rheintalbahn wird frühestens für 2040 erwartet – eher später. So lange jedenfalls ist die Rheintalbahn für Hofmann ein echter „Showstopper“.
Zumal es auf der Gäubahn auch nicht besser aussieht. Diese Strecke, die Stuttgart mit Zürich verbindet, kann aktuell allenfalls einen Güterzug pro Stunde aufnehmen. Als 2017 im Rheintal nach einer Havarie im Rastatter Tunnel die Gleise sieben Wochen lang gesperrt waren, galt die Gäubahn als Ausweichroute, konnte den ganzen zusätzlichen Verkehr aber nicht aufnehmen. Von dem in Lugano vereinbarten Ziel, die Reisezeit im Personenverkehr zwischen Stuttgart und Zürich von drei auf zweieinviertel Stunden zu drücken, ist ohnehin nicht mehr die Rede, und von dem ursprünglich vorgesehenen Einsatz von Neigetechnik-Zügen auch nicht mehr. Geplant wird nur der Bau eines zweiten Gleises auf einigen kurzen Abschnitten – umgesetzt wurde noch nichts.
Als einzige im Vertrag von Lugano erwähnte Verbindung ist die Strecke München-Zürich fertig ausgebaut. Seit einem Jahr ist sie komplett elektrifiziert. „Von drei Ausbaustrecken wurde nur die im Vertrag an letzter Stelle genannte realisiert“, bilanziert Matthias Lieb, baden-württembergischer Landesvorsitzender des Verkehrsclubs Deutschland. „Zufällig diejenige, die in Bayern liegt, der Heimat der langjährigen Bundesverkehrsminister.“