Wahlkampf gegen Europa
In Frankreich schüren Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur EU-Skepsis
- Ausgerechnet Michel Barnier machte den Anfang. Der einstige Monsieur Brexit der Europäischen Union wandte sich gegen die EU-Institutionen. Genauer gesagt gegen den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und das Menschenrechtsgericht in Straßburg. Frankreich müsse in Migrationsfragen seine „juristische Souveränität wiederfinden“, sagte der hochgewachsene 70Jährige Anfang September bei einem Treffen seiner Partei, der konservativen „Les Républicains“. Das Land dürfe in der Asylpolitik nicht ständig unter der „Bedrohung“einer Entscheidung der EU-Gerichte stehen, forderte der zweimalige EU-Kommissar sehr zum Ärger seiner früheren Kollegen in Brüssel.
Der Ex-Minister ist Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner, die Anfang Dezember entscheiden, wen sie ins Rennen um das höchste Staatsamt schicken. Die Bewerber liegen in Umfragen so nah beieinander, dass sie sich gegenseitig mit ihrer Europaskepsis zu übertrumpfen versuchen. Der in den Umfragen führende Xavier Bertrand äußerte sich ähnlich wie Barnier.
Und die frühere Ministerin Valérie Pécresse ging sogar so weit, sich im Justizstreit mit Polen auf die Seite Warschaus zu stellen. Die europäischen Verträge stünden nicht über der polnischen oder französischen Verfassung, sagte die Präsidentin der Region Île de France ganz im Sinne des polnischen Verfassungsgerichts in einem Fernsehinterview. „Europa ist das Europa der Nationen. Das bedeutet, dass unsere Verfassungsgesetze, die Verfassungsidentität jedes souveränen
Staates, der europäischen Gesetzgebung übergeordnet ist.“
Die Forderung, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verlassen, ist in Frankreich nicht neu. Der konservative Präsidentschaftskandidat François Fillon hatte sie bereits im Wahlkampf 2017 formuliert. Nun gehen die Bewerber allerdings noch einen Schritt weiter und übernehmen ungeniert die Rhetorik der rechtspopulistischen Kandidatin Marine Le Pen, die schon lange ein „Europa der Nationen“fordert. „Die Schwächung und Destrukturierung der Parteien führt dazu, dass gewisse Prinzipien nicht mehr respektiert werden“, analysiert der Politologe Olivier Rouquan in der Zeitung „Le Monde“. Dabei machten die Kandidaten unerfüllbare Versprechen, um überhaupt im Rennen zu bleiben.
Le Pen hatte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 mit ihrem Programm eines Ausstiegs aus EU und Euro Schiffbruch erlitten. Die Chefin des Rassemblement National schwenkte daraufhin auf eine Entmachtung der ihr so verhassten EUInstitutionen um. Den Konflikt mit Polen, das sich der EU-Rechtsprechung nicht unterordnen will, nahm sie zum Anlass, Warschau offen zu unterstützen. Das Land werde von der EU-Kommission erpresst, sagte sie nach einem Treffen mit dem polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki in Brüssel.
Der Rechtsextremist Eric Zemmour sprach von einem „föderalistischen Staatsstreich“der EU gegen Polen. Es sei an der Zeit, dem französischen Recht seine Vorherrschaft über europäisches Recht zurückzugeben, forderte der Publizist, der seine Präsidentschaftskandidatur noch nicht erklärte, in Umfragen aber nur knapp hinter Le Pen auf dem dritten Platz liegt.
Präsident Emmanuel Macron bringt der Angriff auf die europäischen Institutionen in eine Zwickmühle. Der Staatschef ist zwar ein überzeugter Europäer, sieht aber auch die Notwendigkeit, bestimmte Dinge in der EU zu verändern. Vor allem, weil das Vertrauen in die Europäische Union in Frankreich in den vergangenen Jahren drastisch abgenommen hat, wie eine Umfrage des Jacques-Delors-Instituts zeigt. Wenn Frankreich im Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, will Macron deshalb vor allem in der gemeinsamen Flüchtlingspolitik vorankommen. Der Asylpakt soll weiterentwickelt und die Grenzagentur Frontex gestärkt werden.
Der Präsident braucht einen schnellen Erfolg, um seinen Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und im April wiedergewählt zu werden.