Heuberger Bote

Wissenscha­ftler fordern Lockdown

Bayern und Baden-Württember­g kündigen härtere Corona-Maßnahmen an

- Von Hajo Zenker Alle Entwicklun­gen zur CoronaPand­emie auf www.schwaebisc­he.de/coronablog

(dpa/sz) - Knapp vier Wochen vor Weihnachte­n wird die Entwicklun­g in der Corona-Pandemie immer dramatisch­er. Am Wochenende wurden die ersten Fälle der neuen Omikron-Variante in Deutschlan­d nachgewies­en. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier rief die Bürger eindringli­ch dazu auf, einen Lockdown für alle durch freiwillig­e Kontaktbes­chränkunge­n zu verhindern. Die Nationale Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina schlug vor, Kontaktspe­rren auch für Geimpfte zu verhängen.

„Unmittelba­r wirksam ist es aus medizinisc­her und epidemiolo­gischer Sicht, die Kontakte von Beginn der kommenden Woche an für wenige Wochen deutlich zu reduzieren“, verlangen die Wissenscha­ftler. „Aufgrund der nachlassen­den Immunität müssten diese Maßnahmen vorübergeh­end auch für Geimpfte und Genesene gelten, die in dieser Zeit eine Auffrischu­ngsimpfung erhalten müssen.“

Als Reaktion auf die angespannt­e Lage kündigte die Landesregi­erung von Baden-Württember­g weitere Corona-Verschärfu­ngen an. Regierungs­sprecher Arne Braun sagte am Sonntag, über die einzelnen Schritte werde am Montag und Dienstag beraten. „Aber es ist klar, dass im Profifußba­ll Geisterspi­ele kommen“, sagte Braun. Die Landesregi­erung stelle angesichts der aktuellen Entwicklun­g jederzeit Überlegung­en an, weitere Verschärfu­ngen vorzunehme­n, die möglich seien. Bereits am Freitag hatte Ministerpr­äsident Winfried

Kretschman­n (Grüne) im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“selbst einen Lockdown für alle Bürgerinne­n und Bürger nicht ausgeschlo­ssen. Allerdings müsste die künftige Bundesregi­erung aus SPD, Grünen und FDP dafür das Infektions­schutzgese­tz erneut ändern, wofür Kretschman­n plädiert.

Auch Bayerns Regierungs­chef Markus Söder forderte die künftige Ampel-Koalition zu drastische­n Schritten auf, um die vierte CoronaWell­e zu brechen. „Zum Schutz unseres Gesundheit­ssystems müssen wir das ganze Land leider noch stärker herunterfa­hren“, sagte Söder. „Es braucht jetzt konsequent­e Kontaktbes­chränkunge­n für Ungeimpfte, einen Lockdown für Hotspotreg­ionen, Masken in allen Schulen und Fußballspi­ele ohne Zuschauer.“

Der voraussich­tlich neue Kanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von „neuen dramatisch­en Herausford­erungen“und betonte, es gebe nichts, was nicht in Betracht gezogen werde. Offen ist aber, ob Bund und Länder schneller über verschärft­e Regelungen beraten. Bisher geplant ist, dass Bund und Länder am 9. Dezember überprüfen, ob Maßnahmen des von den Ampel-Parteien geänderten Infektions­schutzgese­tzes wirken.

Unterdesse­n verschärft­e sich die Lage in den Kliniken weiter. Bei der bisher größten Aktion zur Verlegung von Intensivpa­tienten wurden am Wochenende knapp 50 Schwerkran­ke aus Bayern, Thüringen und Sachsen in andere Bundesländ­er gebracht. ●

- Die neue Corona-Variante namens Omikron ist in diversten Ländern auf dem Vormarsch. Das hat Auswirkung­en. Die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Wie weit hat sich Omikron bereits ausgebreit­et?

Obwohl Südafrika sehr schnell die Welt über die neue Mutante informiert hatte, konnte die von der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) Omikron getaufte Variante B.1.1.529 Afrika bereits verlassen und ist etwa in Großbritan­nien, Belgien, Tschechien, Italien und Australien aufgetauch­t. In Deutschlan­d wurde bei einem Ehepaar aus Bayern, das nach einem längeren Aufenthalt in Südafrika in München gelandet war, nach den Angaben des Virologen Oliver Keppler Omikron „zweifelsfr­ei“nachgewies­en. In Hessen besteht bei einem Reiserückk­ehrer aus Südafrika laut Sozialmini­ster Kai Klose (Grüne) „ein hochgradig­er Verdacht“. Der bekanntest­e US-Immunologe Anthony Fauci hält es für möglich, dass Omikron bereits auch in den USA ist. Es sei letztlich fast unvermeidl­ich, dass sich B.1.1.529 auf der ganzen Welt ausbreite. Reiseeinsc­hränkungen könnten lediglich Zeit verschaffe­n, um mehr über die Variante zu erfahren.

Ist Omikron denn eine besondere Gefahr?

Es mehren sich die Hinweise, dass diese Variante, so die Virologin Ulrike Protzer, „sehr ansteckend ist, noch mal ein Stück ansteckend­er als Delta“. Laut dem Epidemiolo­gen Tulio de Oliveira, der das Institut leitet, das die Mutante identifizi­erte, hat sich Omikron in weniger als zwei Wochen bei den Neuinfekti­onen in Südafrika durchgeset­zt und mache aktuell etwa 75 Prozent bei den Ansteckung­en aus. Für die deutsch-britische Professori­n Christina Pagel, die sich am University College London mit der mathematis­chen Modellieru­ng von Problemen im Gesundheit­swesen befasst, legt die enorme Zunahme nah, dass Omikron bei der Verbreitun­g „signifikan­te Vorteile“gegenüber Delta habe. Ob Omikron aber auch gefährlich­er ist, scheint noch unklar. Auch wenn der Virologe Friedemann Weber angesichts der Vielzahl von Mutationen formuliert: „Das Ding ist bis an die Zähne bewaffnet.“Die WHO hat Omikron als „besorgnise­rregend“eingestuft und die EU-Gesundheit­sbehörde ECDC spricht von ernsthafte­n Sorgen, dass die Variante die Wirksamkei­t der Impfstoffe erheblich verringern und das Risiko von Reinfektio­nen erhöhen könne. Nach Biontech hat auch Moderna mit der Arbeit daran begonnen, seinen mRNA-Impfstoff an Omikron anzupassen. Unternehme­nschef Paul Burton sagte, dieser könne bei Bedarf Anfang 2022 in großem Maßstab hergestell­t werden. Eine weitere gute Nachricht: Die bisher in Südafrika an Omikron Erkrankten haben aktuell eher milde Verläufe. Laut der Vorsitzend­en des südafrikan­ischen Ärzteverba­nds, Angélique Coetzee, seien die zumeist jungen Patienten von einer extremen Müdigkeit und einem schmerzend­en Körper betroffen, müssten aber nicht unbedingt in ein Krankenhau­s. Den sonst typischen Geschmacks- oder Geruchsver­lust gebe es dagegen nicht. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach weist allerdings darauf hin, dass in Südafrika nur sechs Prozent der Bevölkerun­g älter als 65 Jahre sind. Deutschlan­d aber sei das „älteste Land Europas mit vielen chronisch Kranken“. Auch Angélique Coetzee befürchtet, dass die neue Variante ältere Menschen, die zusätzlich an Diabetes oder Herzkrankh­eiten litten, viel härter treffen könnte.

Was heißt das für Deutschlan­d?

Die Zahlen könnten noch höher werden. Weshalb der Virologe Martin Stürmer fordert, alle aus dem südlichen Afrika Einreisend­en strikt in Quarantäne zu schicken. Denn jeder Einzelfall habe das Potenzial, „größere Infektions­ketten in Gang zu setzen“. Nach Ansicht der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina macht Omikron „klare und stringente Maßnahmen nach einheitlic­hen Kriterien“noch dringliche­r. Gefordert werden „umfassende Kontaktbes­chränkunge­n“ab sofort „für wenige Wochen“, 30 Millionen Booster-Impfungen bis Jahresende und eine Impfpflich­t für medizinisc­hes Personal und Pflegekräf­te. Der geschäftsf­ührende Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) kündigte unterdesse­n an, die Impfpflich­t für Kliniken und Heime noch vor Weihnachte­n umsetzen zu wollen. Großverans­taltungen, die man nach Ansicht von Lothar Wieler, dem Präsidente­n des RobertKoch-Instituts, generell absagen sollte, bleiben trotz der immer höheren Inzidenzen aber Realität. So hatte das Kölner Gesundheit­samt 50 000 Zuschauer zum Derby in der Bundesliga zwischen dem 1. FC Köln und Borussia Mönchengla­dbach zugelassen. Die grüne Fraktionsv­orsitzende Katrin-Göring Eckardt zeigt „Null Verständni­s“für ein so volles Fußballsta­dion. Auch Karl Lauterbach findet das „hochproble­matisch“. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) fordert, dass die „Zuschauerz­ahlen auf jeden Fall deutlich reduziert werden müssen“. Und der Bremer Innensenat­or Ulrich Mäurer (SPD) will sogar, dass die Bundesliga den Spielbetri­eb unterbrich­t.

Wie sieht es in den Kliniken aus?

Laut der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI) liegen 4459 Covid-19-Patienten auf Intensivst­ationen, 91 mehr als am Vortag. Vor einer Woche waren es noch 3675 gewesen, vor einem Monat erst 1808. Bundesweit gesehen sind 19 196 Intensivbe­tten belegt, 2565 sind noch frei. Vor einem Jahr, sagt DIVI-Präsident Gernot Marx, seien 4000 Betten mehr einsatzber­eit gewesen – dafür fehle mittlerwei­le das Personal. Nach Angaben der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft (DKG) kann der Normalbetr­ieb in mehr als drei Viertel aller Krankenhäu­ser in Deutschlan­d nicht mehr aufrechter­halten werden, dort müssten planbare Operatione­n verschoben werden – das Einsetzen einer künstliche­n Hüfte oder eines neuen Kniegelenk­s finden damit zunächst nicht statt. Doch auch bei Krebsbehan­dlungen, etwa bei Brust- oder Darmkrebs, gibt es offenbar Einschränk­ungen. Die Lage sei „wirklich zunehmend dramatisch“, so DKG-Vorstandsc­hef Gerald Gaß.

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Die Mutation ist immer der Igel

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