„Jeder Beitrag ist willkommen“
Der Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker zu der Frage, wie viel Zuwanderung Deutschland für seine Wirtschaft braucht
- Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP baut rechtstreuen Ausländern, die seit Jahren mit unsicherem Status in Deutschland leben, eine Brücke hin zu einem dauerhaften Bleiberecht. Dieser sogenannte Spurwechsel sieht unter anderem vor, dass Personen, die in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit weitere Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen. Unternehmer unter anderem aus Baden-Württemberg fordern das schon seit Längerem. Herbert Brücker (Foto: imago), Leiter des Forschungsbereichs Migration,
Integration und internationale Arbeitsmarktforschung, am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, schätzt, dass maximal eine Zahl von 90 000 Migranten von so einer Möglichkeit profitieren könnte. Claudia Kling hat sich mit dem Experten über die Chancen für die deutsche Wirtschaft unterhalten.
Wie viel Zuwanderung braucht Deutschland, um seine Sozialsysteme in der Zukunft zu stabilisieren?
Bei einer Nettoeinwanderung von 400 000 Personen pro Jahr können wir das Erwerbspersonenpotenzial (Arbeitsangebot) bis zum Jahr 2060 konstant halten, das entspricht rund 1,6 Millionen Zuzügen. Aufgrund der gestiegenen und weiter steigenden Lebenserwartung wird dann der Altersquotient – definiert als das Verhältnis von Erwerbspersonenpotenzial zu Pensionären und Rentnern – bis 2060 immer noch um 15 bis 20 Prozentpunkte steigen. Um ihn völlig konstant zu halten, wären unrealistisch hohe Einwanderungszahlen notwendig, unter anderem, weil die Migrationsbevölkerung ja auch altert. Aber wir können die Belastungen für die Sozialsysteme erheblich abmildern.
Die künftige Ampel-Koalition will abgelehnten Asylbewerbern, die für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen, die Möglichkeit einräumen, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Wird das die Zahl der Erwerbstätigen spürbar erhöhen?
Wir rechnen damit, dass rund 50 000 bis maximal 90 000 Personen für eine solche Regelung infrage kommen. Das ist für die Betroffenen sinnvoll, und wir profitieren davon, aber es löst die demografischen Probleme nicht. Aber: Jeder Beitrag ist willkommen.
Wie wird es sich längerfristig auswirken, wenn zu wenige Zuwanderer nach Deutschland kommen?
Die gesamtwirtschaftliche Produktion und die Investitionstätigkeit werden zurückgehen, und es werden Finanzkapital und reale Kapitalanlagen in das Ausland abfließen. Damit setzt ein Schrumpfungsprozess in der Volkswirtschaft ein, der durch das Produktivitätswachstum nur bedingt aufgehalten werden kann. Kritisch sind die Auswirkungen vor allem für die fiskalische Bilanz des Staates und der Sozialversicherungssysteme. Das trifft vor allem die Gruppen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, das sind unter anderem die Älteren in der Gesellschaft. Aber es kommt auch zu einer steigenden Umverteilung von Jung zu Alt. Die Verteilungskonflikte werden auf allen Ebenen zunehmen und das Wohlstandsniveau sinken.