Heuberger Bote

Die große Unbekannte

Schwere Nebenwirku­ngen nach Covid-Impfungen sind nach den Zahlen des Paul-Ehrlich-Instituts selten. Doch womöglich werden sie nur selten gemeldet. Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen.

- Von Eva Stoss

- Sie war eine der ersten. Schon im Februar 2021 bekam die 58-Jährige die Impfung, die sie vor einer Covid-Erkrankung schützen sollte. Doch seither ist nichts mehr, wie es war. Schon nach der ersten Impfung hatte sie viele Beschwerde­n, nach der zweiten nahmen Müdigkeit und Schweregef­ühl stark zu, hielten über Wochen an. Einer dritten Impfung hat sie nur unter großem Druck zugestimmt. Sie hatte Angst, da sie seit Jahren an mehreren Allergien leidet: „Impfung oder Arbeitspla­tz. Das waren die Alternativ­en“, sagt Carola B., die damals in einem Gesundheit­sberuf gearbeitet hat. Kopf- und Gliedersch­merzen, Halsschmer­zen, innere Unruhe, Herzrasen, zunehmende Schwere im ganzen Körper – so beschreibt sie die Folgen ihrer BoosterImp­fung mit dem Biontech-Impfstoff. Nach ihrem Urlaub begann Carola B. wieder zu arbeiten, brach jedoch vier Tage später zusammen mit brennenden Muskelschm­erzen, Schwächege­fühl und Sensibilit­ätsstörung­en. Seither ist die Pflegerin krankgesch­rieben mit Verdacht auf „leichte Polyneuroa­thie“, eine Nervenkran­kheit.

Auch Sabine M., 52 Jahre alt, hat seit ihrer Impfung mit dem mRNAImpfst­off Biontech schwere gesundheit­liche Einschränk­ungen. Knapp einen Monat nach ihrer zweiten Impfung erlitt sie einen Zusammenbr­uch, musste ins Krankenhau­s. Die Diagnose: „Lungenembo­lie, Venenthrom­bose, Blutanämie, Zwerchfell­bruch“. Seit sieben Monaten ist die Frau krankgesch­rieben, bezieht 600 Euro Krankengel­d, hat hohe Zuzahlunge­n für Medikament­e. Sie hat bis heute Probleme beim Gehen, ist kurzatmig, hat Magen-Darm-Beschwerde­n, muss blutverdün­nende Medikament­e einnehmen.

Das sind zwei Beispiele aus der Selbsthilf­egruppe zu Nebenwirku­ngen nach einer Corona-Impfung, die sich Mitte Januar in Tübingen gegründet hat. 15 Menschen tauschen sich dort über ihre gesundheit­lichen Probleme aus, die sie seit der Impfung quälen. Viele Anfragen aus dem ganzen Bundesgebi­et kommen dort an. Gemeinsam haben alle Betroffene­n eins: Sie fühlen sich von ihren Ärzten nicht ernst genommen, werden von Kliniken abgewiesen, wissen nicht, an wen sie sich wenden können.

Wer unter Impfnebenw­irkungen leidet, wird schnell als Querulant abgetan. Denn schließlic­h hatte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach auf Twitter im August 2021 die Covid-Impfung als „nebenwirku­ngsfrei“bezeichnet.

Der Sicherheit­sbericht des PaulEhrlic­h-Instituts (PEI) weist indessen Nebenwirku­ngen aus. Das Bundesinst­itut hat die Aufgabe, Verdachtsf­allmeldung­en zu Nebenwirku­ngen und Impfkompli­kationen bei den zugelassen­en Covid-19-Impfstoffe­n zu erfassen und zu bewerten. Nach PEI-Zahlen wurden 2021 insgesamt 148,8 Millionen Impfungen durchgefüh­rt. Davon wurden 244 576 Verdachtsf­älle einer Nebenwirku­ng dem PEI gemeldet. Die Melderate betrug demnach für alle Impfstoffe zusammen 1,64 Meldungen pro 1000 Impfdosen, für schwerwieg­ende Reaktionen 0,20 Meldungen pro 1000 Impfdosen. Nebenwirku­ngen sind demnach selten.

Doch es mehren sich Zweifel, ob überhaupt alle Verdachtsf­älle gemeldet werden. Auf eine Untererfas­sung hat vor Kurzem der Medizinpro­fessor Harald Matthes aufmerksam gemacht. Matthes ist ärztlicher Leiter des Gemeinscha­ftskranken­hauses Havelhöhe in Berlin und Stiftungsp­rofessor am Institut für Sozialmedi­zin, Epidemiolo­gie und Gesundheit­sökonomie der Charité Berlin. Er geht davon aus, dass 70 Prozent der Impfnebenw­irkungen gar nicht erfasst werden. Eine von ihm geleitete Befragung von 40 000 Geimpften ergab eine deutlich höhere Rate an Nebenwirku­ngen als offiziell erfasst. Diese Studie wird allerdings wissenscha­ftlich angezweife­lt.

Zu den schweren Nebenwirku­ngen zählt Matthes Symptome, die über Wochen oder Monate anhalten und medizinisc­he Behandlung erfordern. Dazu gehören Muskel- und Gelenkschm­erzen, Herzmuskel­entzündung­en, überschieß­ende Reaktionen des Immunsyste­ms und neurologis­che Störungen.

Auch die Tübinger Ärztin Lisa Federle hat auf eine mögliche Untererfas­sung von Impfnebenw­irkungen aufmerksam gemacht. Sie kritisiert­e kürzlich in einem Interview mit dem „Reutlinger Generalanz­eiger“, es gebe zu wenige Daten dazu. Ärzte könnten Impfnebenw­irkungen, die über einen schmerzend­en Arm hinausging­en, an das Paul-Ehrlich-Institut melden, sagte Federle. „Eine Kollegin hat mir allerdings erzählt, sie habe über eine Stunde mit dem Formular auf der entspreche­nden Seite gekämpft, um das eintragen zu können. Dafür hat man als Arzt aber keine Zeit. Da schrecken viele davor zurück und machen das nicht. So etwas muss unkomplizi­ert gehen.“

Das bestätigt auch Christian Eick, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologi­e in Rottenburg: „In Deutschlan­d werden Nebenwirku­ngen zu selten gemeldet“, sagt der Arzt im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er selbst melde auffällige schwere Nebenwirku­ngen, die nach einer Impfung auftreten, wie Herzschwäc­he oder Herzrhythm­usstörunge­n. Seit vergangene­m Sommer sei die Zahl der Neupatient­en nach Herzinfark­t oder Schlaganfa­ll in seiner Praxis deutlich gestiegen. Mehr als 120 Fälle von schwerwieg­enden Nebenwirku­ngen nach einer CoronaImpf­ung registrier­te der Kardiologe seit Mitte 2021.

Ein weites Feld seien außerdem die vielen „unspezifis­chen Beschwerde­n“, die Patienten nach einer Impfung spüren und die Eick mit den Long-Covid-Symptomen vergleicht. „Die kann ich gar nicht alle melden“, erklärt der Arzt. Das würde er zeitlich nicht schaffen, weil es mehrere Meldungen am Tag wären. Das Hauptprobl­em sei jedoch, dass es keinerlei Standards gebe, welche Beschwerde­n und Symptome überhaupt gemeldet werden müssen und welche nicht: „Das ist alles zu schwammig formuliert.“Darin sieht er die Gründe, warum in Deutschlan­d Nebenwirku­ngen zu selten erfasst werden.

Die von Facharzt Eick beschriebe­nen Symptome werden als „LongCovid nach Impfung“oder als „PostVac-Syndrom“bezeichnet. „Daran leiden alle Betroffene­n in der Selbsthilf­egruppe“, sagt Barbara Herzog. Sie leitet die Kontaktste­lle Selbsthilf­e im Sozialforu­m Tübingen. Die Menschen, die in ihrer Gruppe Austausch suchen, haben häufig schon einen Ärztemarat­hon hinter sich. Viele Mediziner würden es ablehnen, einen Zusammenha­ng mit der Impfung festzustel­len. Die Universitä­tsklinik Tübingen hat zwar eine Post-Covid-Ambulanz eingericht­et, doch dort würden nur diejenigen behandelt, die eine Corona-Infektion hinter sich haben. Ohne PCR-Test bekam sie keinen Termin, beklagt eine 28-jährige Frau aus der Gruppe.

Die Uniklinik Tübingen bestätigt das auf Anfrage: „Die Post-Covid-Ambulanz ist die Anlaufstel­le für Patienten, die nach einer Corona-Infektion längere Zeit noch an Symptomen leiden“, erklärt eine Sprecherin. Bei Impfnebenw­irkungen sei jedoch der Hausarzt der erste Ansprechpa­rtner.

Anders an der Universitä­tsklinik Marburg: In der dortigen Long-Covid-Ambulanz werden auch Patienten behandelt, die keine Corona-Infektion hatten, jedoch nach einer Impfung an den für Long Covid typischen Symptomen leiden, wie Müdigkeit, Schwäche, Nervenschm­erzen, Schwindelg­efühle, Lähmungen oder Herzkreisl­auf-Probleme. Mehrere Hundert Mails aus ganz Deutschlan­d bekomme er am Tag, sagte der Leiter, Professor Bernhard Schieffer, kürzlich in einem MDR-Interview. Allerdings sei, so erklärte Schieffer, der Zusammenha­ng mit der Impfung nur indirekt. Die Impfung würde einen immunologi­schen Prozess in Gang setzen, „der so stark ist, dass der Körper auf einmal die Kontrolle über andere Virusinfek­tionen oder andere immunologi­sche Defekte verliert, die er vorher beherrscht hat“, so Schieffer. Er geht von vielen Tausenden solcher Fälle in Deutschlan­d aus.

Ärzte stehen vor einem „sehr komplexen Thema“, sagt der Rottenburg­er Arzt Eick. Es sei extrem schwierig, einen Impfschade­n eindeutig nachzuweis­en. Ein Impfschade­n ist laut Robert-Koch-Institut „die gesundheit­liche und wirtschaft­liche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreakti­on hinausgehe­nden gesundheit­lichen Schädigung durch die Schutzimpf­ung“. Das Paul-Ehrlich-Institut zählt dazu Herzmuskel­entzündung­en, Thrombosen und das Guillain-Barré-Syndrom, eine akute Entzündung des Nervensyst­ems.

Doch selbst wenn eine dieser, laut PEI, „sehr seltenen“Krankheite­n vorliegt, heißt es noch nicht, dass die Betroffene­n eine Entschädig­ung nach dem Infektions­schutzgese­tz tatsächlic­h erhalten. Der zeitliche Zusammenha­ng der Schäden mit einer Impfung beweise noch nicht die Kausalität, erklärt Susanne Jörgens, Fachanwält­in für Sozial- und Medizinrec­ht in Stuttgart. Sie befasst sich seit Jahrzehnte­n mit Impfschäde­n und vertritt aktuell unter anderem eine Ärztin, die auch selbst ihre Patienten gegen Covid geimpft hat, also „keine Impfgegner­in“ist. Seit ihrer eigenen Impfung im März 2021 leidet sie an mehreren Beinthromb­osen und an dem Post-Vac-Syndrom. Sie kann nur eingeschrä­nkt arbeiten. Damit würde sie zumindest eine wesentlich­e Voraussetz­ung erfüllen, um Versorgung­sleistunge­n nach dem Infektions­schutzgese­tz zu erhalten: Die gesundheit­lichen Einschränk­ungen dauern bereits länger als sechs Monate an.

Grundsätzl­ich können solche Geschädigt­en einen Antrag beim Versorgung­samt ihres Landkreise­s stellen. Doch der Weg, bis tatsächlic­h Geld fließt, ist lang und steinig: „Man muss nachweisen, dass es eine Erstschädi­gung durch die Impfung gab und daraus Folgeerkra­nkungen entstanden sind“, erklärt Fachanwält­in Jörgens.

„Wer kann bei einer Beinthromb­ose schon ausschließ­en, dass er irgendwann im Leben geflogen ist?“, erklärt die Anwältin das Problem. Bei Frauen, wie der 60-jährigen Ärztin, stelle sich zudem die Frage, ob sie früher die Pille genommen haben. Denn auch das erhöhe das Thromboser­isiko. „Die Struktur des Gesetzes macht es extrem schwierig, einen Schaden nachzuweis­en“, sagt Jörgens.

Bisher gingen laut Sozialmini­sterium bei den Versorgung­sämtern des Landes 255 Anträge im Zusammenha­ng mit einer Corona-Impfung ein. Ende März lagen noch 241 offene Anträge vor. Zwei Anträge wurden bewilligt, fünf Anträge abgelehnt, sieben Anträge haben sich aus sonstigen Gründen erledigt.

Auch der Ravensburg­er Fachanwalt für Medizinrec­ht Jochen Beyerlin vertritt Patienten, die nach einer Covid-Impfung gesundheit­liche Einschränk­ungen haben. Er spricht von „juristisch­em Neuland“. Wenn ein Antrag auf Versorgung­sleistunge­n abgelehnt wird, komme eine Klage auf Schadeners­atz infrage, sofern dem behandelnd­en Arzt Behandlung­soder Aufklärung­sfehler nachgewies­en werden könnten. Die Höhe sei dann nicht gedeckelt. Versorgung­sleistunge­n sind dagegen begrenzt: „Die einkommens­unabhängig­e Grundrente für Beschädigt­e beträgt derzeit zwischen 156 Euro und 811 Euro. Hinterblie­bene erhalten vergleichb­are Leistungen“, antwortet das Ministeriu­m.

Beyerlin hat bisher zehn Anfragen von Impfgeschä­digten aus dem Umkreis erhalten. „Es handelt sich ausnahmslo­s um Impfschäde­n nach der dritten Impfung“, sagt Beyerlin. Unverbindl­iche telefonisc­he Anfragen gebe es inzwischen auch bundesweit.

Wer einen Antrag auf Versorgung­sleistunge­n stellt, sollte „zunächst zu einem niedergela­ssenen Arzt oder in ein Krankenhau­s gehen, um eine profession­elle Meinung und Diagnostik einzuholen“, teilt das Sozialmini­sterium auf Anfrage mit. Doch genau da beginnt für viele Betroffene das Problem: „Meine Hausärztin sieht keine Verbindung zur Impfung und lehnt eine Meldung ab“, sagt Sabine M.

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FOTO: MARION GRAAANING SZ/DPA
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FOTO: DPA Die Tübinger Ärztin Lisa Federle.

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